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Das Parlament, 51. Jg., Nr. 48/49, 23./30. November 2001, Seite 8
(Politisches Buch)
Von Friedrich Pukelsheim
Nikolaus Krebs wurde 1401 - der genaue Tag ist unbekannt - in Kues an der Mosel geboren. Noch als Kirchenfürst schmückt sein Wappen ein roter Krebs. Als blutjunger Student schreibt er sich an der neuen Universität Heidelberg ein; die nicht mehr ganz so junge Universität Padua promoviert ihn zum Doktor der Kirchenrechte. Er schämt sich seiner Herkunft nicht, aber sie ist ihm zu wenig. Bald nennt er sich Nikolaus von Kues oder in latinisierter Form Nicolaus Cusanus, und so kennt ihn die Geschichte.
Konzil oder Kurie
Eine umstrittene Bischofswahl in seiner Heimatdiözese Trier katapultiert ihn auf die Bühne der Welt. Nikolaus klagt für den unterlegenen Kandidaten, aber nicht beim Papst in Rom, sondern beim Konzil in Basel. Dort ist die beherrschende Frage, wer mehr zu sagen hat, Konzil oder Kurie. Trotz Niederlage im Rechtsstreit gewinnt Nikolaus gewaltiges Ansehen als Fürsprecher der konziliaren Partei. Er ist berühmt. Aber mehr und mehr missbilligt er die Strategie der Mehrheit, die papsttreue Minderheit eher auszugrenzen als einzubinden. Er will die Kirche reformieren, um sie zu einigen, nicht um sie zu entzweien. Als der Parteienstreit die Annäherung zur griechischen Ostkirche gefährdet, wechselt Nikolaus die Seiten.
Auf Reichstagen und Fürstenversammlungen kämpft er fortan für die Politik des Papstes - gleichermaßen bewundert und beschimpft als des Papstes Herkules wider die Deutschen. Er steigt zu Kardinalswürden auf; man nennt ihn den deutschen Kardinal, denn als Deutscher unter den Kirchenfürsten gleicht er einem weißen Raben. Nikolaus wird Fürstbischof von Brixen, nun sollen seine Reformvorstellungen Wirklichkeit werden. Aber stattdessen erlebt er sein Waterloo und scheitert an den politischen Aufgaben des Amtes. In kaltem Winter vertreibt ihn sein Widersacher auf eine einsame Burg; von hier schreibt Nikolaus die ihm angetane Schmach mit bitteren Briefen in die Welt hinaus.
Ein triumphaler Aufstieg befreit ihn aus der misslichen Lage. Der neue Papst Pius II., wohlgesonnener Kampfgefährte aus den Tagen des Basler Konzils, beruft ihn als Generalvikar nach Rom. Nikolaus, im Zentrum der Macht angekommen, könnte jetzt nicht nur ein Bistum, sondern die ganze Kurie reformieren. Aber auch hier gibt es Gegensätze, die kein Ausgleich mildert. Zudem träumt der Papst von einem Türkenkreuzzug - für Nikolaus ein Albtraum. In heißem Sommer schickt ihn sein Gönner auf den Weg, die Kreuzritter unter päpstlichem Segen zusammenzuführen, als ihn Augenleiden, Gicht und Darmkrämpfe auf das Krankenlager werfen. Im umbrischen Bergstädtchen Todi stirbt er am 11. August 1464.
Die letzte Ruhe findet Nikolaus in seiner römischen Titelkirche Sankt Peter in Ketten - sein Herz und sein Vermögen vermacht er seinem Geburtsort Kues. Dort lebt die Erinnerung an ihn heute dreifach fort: in Form des Sankt Nikolaus-Hospitals als eine der ältesten Sozialeinrichtungen in deutschen Landen, in Form der weltberühmten Bibliothek mit seiner Handschriftensammlung und in Form des eingetragenen Warenzeichens Cusanus für Wein aus besten Mosellagen. Unbeschadet überstand die Stiftung die Säkularisation, als erfahrener Kirchenrechtler hatte Nikolaus sie privatrechtlich begründet. Aus Ehrfurcht vor seinem Erbe verzichtete der Kriegsgegner 1943 auf die Bombardierung der nahegelegenen Moselbrücke, im Wahn des "Endsiegs" zerstören Deutsche die Brücke dann selber.
Dass Nikolaus von Kues nach einem halben Jahrtausend uns heute in einem Bild gegenübersteht, dessen Lebensnähe sensationell zu nennen ist, verdanken wir der von Erich Meuthen vorgenommenen Rasterfahndung, den Acta Cusana, mit Tausenden von Selbstzeugnissen, Notizen von Briefpartnern und Akten Dritter. Die Tätigkeit als Kanonist und die Wahrnehmung der Kirchenämter standen zurück hinter dem, worin Nikolaus seine eigentliche Berufung sah: ein guter Seelsorger zu sein in einer Zeit verwirrender Gegensätze.
Wunderheilung und Hexenwahn waren für ihn Auswüchse, die weniger im christlichen Glauben wurzelten als eher eine sich verselbständigende Volksfrömmigkeit bedienten. Ablassgewährung und Reliquienhandel kritisierte er vehement, wenn er kommerziellen Missbrauch witterte, und duldete sie, wenn sie sich seelsorgerischen Zielen unterordneten.
Wunder und Hexenwahn
Bei alledem war Nikolaus ein übereifriger Pfründensammler, auch in weltlichen Geschäften wusste er seinen Vorteil zu mehren. Als Kind der Mosel liebte er den Wein, konnte ihn aber nur mit Maßen genießen, weil er sonst Magendrücken bekam. Er war ein Workaholic; noch nach einem Tagesritt von 30 Kilometern setzte er sich an den Schreibtisch, um stundenlang im Kerzenlicht an seinen Werken weiterzuschreiben.
Die wissenschaftliche Edition der Nicolai de Cusa Opera Omnia begann 1932 und endet in diesem Jahr, ein Geschenk zum 600. Geburtstag. Der zwanzigste und letzte Band wird die von Menso Folkerts edierten mathematischen Schriften umfassen.
Wiederkehrendes Motiv bei Nikolaus von Kues ist, das Gemeinsame zu würdigen, das sich hinter den scheinbar widersprüchlichen Begriffen von Einheit und Vielfalt verbirgt. Die allumfassende Eintracht (De concordantia catholica, 1433), die Hauptschrift aus der konziliaren Periode, ist dem Zusammenhalt von Kirche und Staat gewidmet. Wie Seele und Leib sich zu dem ergänzen, was Menschen ausmacht, so fügen sich das geistliche Reich der Kirche und die weltliche Gewalt des Staates zu dem zusammen, was die Gesellschaft ist.
Nikolaus denkt auch ans Praktische. Es verletzt die Idee der Einheit, dass die Menschenzeit des Julianischen Kalenders der Zeitenfolge der Natur zuwiderläuft.
Die Kalenderverbesserung (De correctione kalendarii, 1436) nimmt vorweg, was mit der Einführung des Gregorianischen Kalenders einhundertfünfzig Jahre später vollzogen wird.
Kraft zur Differenzierung
Was ist die Idee der Einheit dann wert, wenn doch Gegensätze die Welt beherrschen und Reformen nicht vom Fleck kommen? Nikolaus beantwortet die Frage mit einer These, die seine nachkonziliaren Schriften prägt: dem Zusammenfall der Gegensätze - coincidentia oppositorum. Zur Verdeutlichung bedient er sich mit Vorliebe der Sprache der Mathematik. Ein Kreisel, der sich unendlich schnell dreht, erscheint wie in Ruhelage. Oder: Ein Kreis mit endlichen Radius hat einen wohlbestimmten Mittelpunkt, aber bei unendlichem Radius kann jeder Punkt Mittelpunkt sein.
Die Welt, in der die Menschen leben, erzwingt Vielfalt durch endliche Unvollkommenheit. Die Menschen können die offensichtliche Vielfalt nicht aufheben, wohl aber sich der Aufhebung der Vielfalt durch Denken nähern. Wahre Einheit ist das Privileg Gottes, die Menschen müssen sich mit der Kraft zur Differenzierung begnügen.
Es erscheint wie ein Zug von Bescheidenheit, dass die Philosophie des Nikolaus von Kues umso optimistischer wird, je mehr er politisch resigniert. Verschiedenes als Einheit zu denken, ohne Andersheit zerstören zu müssen - für Nikolaus ist die Kraft zur Differenzierung die Summe seiner Philosophie. In der Tradition von Llull und im Vorgriff auf Lessing propagiert er im Religions- und Glaubensfrieden (De pace fidei, 1453) eine von Verständnis getragene Toleranz zwischen Christen, Juden und Muslimen. Statt in einen Kreuzzug zu ziehen und den Clash of Cultures zu suchen, sollen die Menschen die ihnen von Gott aufgegebene Verschiedenheit annehmen. Solche Gedanken zeitlos zu nennen, wäre untertrieben, sie sind frappierend aktuell.