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Litterae Cusanae 2 (2002) 3-15
Friedrich Pukelsheim
Meine Damen und Herren! [Anm. 1] Ich möchte Sie heute Abend auf eine Schatzsuche entführen. Kein geldwerter Schatz – es geht nicht um Beraterhonorare und Vortragsvergütungen in sechsstelliger Höhe, sondern ein intellektueller Schatz. Das Objekt meiner steuerfahndungsfreien Begierde ist eine Schrift des Raimund Lull, verfaßt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, überliefert als Abschrift aus dem 15. Jahrhundert, niedergefahren in die Katakomben der Biblioteca Apostolica Vaticana und dort von Generationen der Ewigkeit verpflichteter Bibliothekare liebevoll behütet in ihrem Dornröschenschlaf.
Die lustvolle Arbeit des Wachküssens haben Herr Hägele und ich in selbstloser Weise Ihnen, meine Herren und Damen, abgenommen. Unsere Lesefrüchte sind in einem Report zusammengefaßt, von dem ich einige Kopien für Sie als Souvenir mitgebracht habe, falls Sie sich nach dem Vortrag immer noch für das Thema interessieren und mehr Einzelheiten wissen wollen. [Anm. 2]
Wie in unserem Geschäft üblich, sind es solche Einzelheiten, die den eigentlichen intellektuellen Höhepunkt ausmachen. In meinem Bericht heute Abend möchte ich aber die Einzelheiten nur von ferne streifen und statt dessen den Weg zum Höhepunkt mit Ihnen zusammen genüßlich nachempfinden, getreu dem Motto: Der Weg ist das Ziel.
Der Weg beginnt vor fünfzehn Monaten, genauer am Samstag, dem 6. November 1999. Beim Frühstück fielen meine Augen auf eine Schlagzeile in der Süddeutschen Zeitung: Jesaja, das erste Kapitel, 22 Jahre lang. Ich war gefesselt. Die Länge eines biblischen Kapitels in Jahren gemessen statt in Metern? Nun, die Schlagzeile trieft von Spott. Sie fiel anläßlich der Evaluation – so würden wir heute sagen – der Theologischen Fakultät der Universität Wien. Der dortige Kollege Thomas Ebendorfer las über dasselbe Thema, eben über des ersten Propheten erste Anfänge, Jesaja, das erste Kapitel, Semester ein und Semester aus, seit langen 22 Jahren. Und wie der Visitator bissig hinzufügt: «Ein Ende ist nicht abzusehen.» Der das sagte war Enea Silvio de Piccolomini, der später – 1458 – zum Papst Pius II. gewählt wurde. Schon seit den Tagen des Basler Konzils, an dem Thomas Ebendorfer und Enea Silvio in jungen Jahren teilgenommen hatten, kannten sich die beiden Herren gut und verstanden sich schlecht. Sie starben beide im Jahre 1464, was ihrem frühen Abgang aus dem heutigen Vortrag eine doch noch versöhnliche Note gibt. In demselben Jahr 1464 starb auch einer der anderen Jungtürken des Basler Konzils, Nicolaus Cusanus, eine zentrale Figur des heutigen Abends.
Lassen wir das Sterben, suchen das Leben und fragen: Wurde Nicolaus Cusanus geboren? Wer Tag und Monat wissen wollte, bleibt ohne Antwort. Jahr und Ort aber sind belegt: Geboren wurde der Nicolaus im Jahr 1401 in Kues an der Mosel, womit dann auch die latinisierten Namensformen Nicolaus de Cusa und Nicolaus Cusanus erklärt wären. Das Geburtsjahr 1401 verrät seine Besonderheit nicht, wenn man mathematisch die Zahl als solche bedenkt. Wir müssen sie philosophisch von unserem Sosein im hierigen Jetzt aus betrachten, nämlich von den Schultern des Jahres 2001 aus. Hier 2001, dort 1401: lange 600 Jahre liegen dazwischen. Dieser runde Geburtstag wird im kommenden Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter noch für manche Schlagzeile gut sein. Aber spekulieren wir nicht über noch ungeschriebenen Schlagzeilen. Erfreuen wir uns an der Schlagzeile, so wie sie vor uns liegt.
Jesaja, das erste Kapitel, 22 Jahre lang – Die Schlagzeile betitelt die Rezension des Buches von Hartmut Boockmann Wissen und Widerstand: Geschichte der Deutschen Universitäten. Der Leitspruch der Universität Augsburg, Wissen und Gewissen, wäre ein treffenderer Titel gewesen als Wissen und Widerstand. Denn Boockmann tut sich schwer, wie er zugibt, den Widerstand der Universitäten insbesondere in der jüngeren deutschen Geschichte dingfest zu machen, während ein Gewissen ja auch der beanspruchen darf, der den Widerstand nur denkt.
Der Rezensent ist des Lobes voll über Boockmanns Universitätsgeschichte. Das rechte Buch also, das dem weihnachtlichen Wunschzettel hinzuzufügen sich in einer professoralen Midlifecrisis geradezu aufdrängt. Und ich muß sagen, Recht hat er, der Rezensent: Boockmanns Universitätsgeschichte ist kompakt, aber auch umfassend, bietet kurzweilige Episoden, aber auch bedenkenswerte Reflexionen.
Im Kerzenschein des Weihnachtsbaums trug meine Lektüre des Buchs gleich schon auf Seite 30 Früchte. Boockmann steuert auf den mittelalterlichen Spruch zu: Rex illiteratus est quasi asinus coronatus – Ein König, der nicht schreiben kann, gleicht einem gekrönten Esel. Der politikwissenschaftliche Gewinn für uns Nachgeborene ist natürlich Null: Unter unseren heutigen Politikern ein gekrönter Esel? Es gibt keine Krone mehr. Im Mittelalter aber war es durchaus keine Selbstverständlichkeit, daß ein König des Lesens und Schreibens mächtig war.
Zum Beleg führt Boockmann eines der großen Werke des Nicolaus Cusanus an: De concordantia catholica – Von der allumfassenden Eintracht. Im dritten Buch seines Werks entwirft der Cusaner ein System zur Wahl des deutschen Königs und trifft dabei in Paragraph 536 Vorkehrungen gegen den Bildungsnotstand unter den Mächtigen: Wer von den Kurfürsten die Stimmzettel nicht selbst zu kennzeichnen vermag, weil er des Lesens nicht mächtig ist, kann sich seines Sekretärs bedienen. Was genau so in Paragraph 33 unseres geltenden Bundeswahlgesetz steht: «Ein Wähler, der des Lesens unkundig ist, kann sich der Hilfe einer anderen Person bedienen.»
Den Bildungsmangel, den Boockmann anprangert, bezieht er auf die weltlichen Fürsten. Standen geistliche Würdenträger gelehrter da? Im Verlauf der fünfzehnmonatigen Schatzsuche habe ich dazugelernt, daß dem wohl nicht notwendig so war. Herr Schimmelpfennig berichtet in einem Aufsatz über mittelalterliche Papst- und Bischofswahlen, daß gelegentlich sogar Domherren, die als Skrutatoren, das heißt als Wahlvorstände, amtierten, nicht schreiben konnten und zur Ausübung ihres Amtes eines klerikalen Notars bedurften.
Der Bildungsstand der weltlichen Fürsten oder der geistlichen Würdenträger war aber nicht das, was mich interessierte. Mich faszinierte der Hinweis darauf, daß Cusanus in seinem Wahlsystem eine geheime Abstimmung vorsah. Wieso geheim, fragte ich mich, hielt ich doch den Grundsatz der geheimen Wahl für eine Errungenschaft der Neuzeit.
Mich beschäftigte diese Problematik, weil ich gerade zu jener Zeit zusammen mit Herrn Masing ein gemeinsames Seminar vorbereitete zum Thema Juristische und mathematische Probleme des Wahlrechts. Und, so sollte ich gleich hinzufügen, im Sommersemester dann auch durchführte, wobei die Teilnehmer der Interdisziplinarität der Veranstaltung eine besondere Motivation abgewannen.
Vielleicht ist hier der rechte Ort, eine kurze apologisierende Auszeit zu nehmen. Denn ich hätte Verständnis dafür, wenn Sie fragen, was mir einfällt, Handschriften des Vatikans einzusehen oder Artikel der Verfassung auszulegen, wo ich doch bekanntlich dafür bezahlt werde, Mathematik zu machen. Zur Verteidigung würde ich vorbringen, daß es in der Tat die mathematischen Aspekte im Wahlrecht sind, denen mein Hauptinteresse gilt: die quantitativen Eigenschaften, die operationalen Vorschriften. Allein, es wäre elfenbeinerne L'art pour l'art, wollte innermathematische Nabelschau die qualitativen Rahmenbedingungen unseres Wahlsystems definieren. Die Ziele und Ansprüche einer Wahl werden vom gesamtgesellschaftlichen Umfeld bestimmt, und nur wenn diese außermathematischen Vorgaben verstanden werden, kann die formale Rigorosität der Mathematik einen Beitrag liefern, der allen weiter hilft.
Was die geheime Wahl angeht, so ist dies einer der Wahlrechtsgrundsätze unserer Verfassung. Natürlich sind diese Grundsätze nur langsam zu dem gewachsen, was sie uns heute bedeuten. Irrtümlicherweise glaubte ich, sie seien eine Errungenschaft der neueren und neuesten Geschichte. Zur Entschuldigung für diesen Fehltritt verstecke ich mich – wie üblich – hinter Autoritäten. So schreibt Dieter Nohlen, Wahlpapst der deutschen Politologie und Laureat unseres Augsburger Instituts für Spanien- und Lateinamerika-Studien: «Der Prozess der Durchsetzung eines demokratischen Wahlrechts vollzog sich innerhalb von etwa 100 Jahren,» und meint damit die Periode von 1848 bis 1945. Oder Wolfgang Schreiber sagt im Standardkommentar zum Bundeswahlgesetz:
Dieser beschränkte zeitliche Horizont mag ausreichen, was die Entstehung der modernen Massendemokratie angeht. Die Rechtsgrundsätze, die wir heute als konstitutiv für eine politische Wahl empfinden, reichen aber viel weiter zurück.
Der Grundsatz der geheimen Wahl ist geradezu ein Paradebeispiel für diesen langen geschichtlichen Vorlauf. Und Boockmann weist in seiner Universitätsgeschichte genau auf die Stelle in der Concordantia catholica des Nicolaus Cusanus hin, wo der Paradigmenwechsel von der offenen zur geheimen Wahl so augenfällig wird, wie es nur geht, und genauso begründet wird, wie wir das heute auch sehen. Denn, sagt Cusanus, die Geheimhaltung der Stimmabgabe verhindert zweierlei. Einerseits verhindert sie, daß die Wähler ihren eigenen Vorteil suchen und ihre Stimme als Ware an die Kandidaten feilbieten. Andererseits wird verhindert, daß die Kandidaten den Wählern Angst machen und sie unter Druck setzen. Durch die geheime Wahl sollen möglichst große Freiheit unter den Wählern und Friede unter allen gewahrt werden, so Cusanus anno domini 1433. Und das gilt damals so gut wie heute.
Wer war der Mensch, dessen 600. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern werden? Als blutjunger Student ist Cusanus an der jungen Universität Heidelberg eingeschrieben, an der nicht mehr ganz so jungen Universität Padua wird er einige Jahre später zum Doktor der Kirchenrechte promoviert. Nach Beschäftigung mit Theologie und Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln kehrt er in das heimatliche Bistum zurück und wird Dekan des Kollegiatstifts Sankt Florin in Koblenz. Nebenher ist er als Rechtsanwalt tätig.
Es sind die Wahlstreitigkeiten um die Nachfolge auf dem Trierer Bischofsstuhl, die Cusanus auf die Bühne der Welt katapultieren. Der Kandidat Ulrich von Manderscheid fühlt sich um den Wahlsieg betrogen und klagt beim Papst. Der Papst tut nicht das, was der Kläger will. Da übernimmt Cusanus die Rechtsvertretung des Klägers und reist – nicht nach Rom zum Papst, sondern nach Basel zum Konzil, das gerade seine Beratungen aufgenommen hat. Wahlstreitigkeiten waren also die Raison d'être für den ersten Auftritt des Cusaners in der großen Politik. Cusanus muß für Wahlfragen in höchstem Maß sensibilisiert gewesen sein und wird sich so seine eigenen Gedanken dazu gemacht haben.
Das Basler Konzil wird von eben dieser Frontstellung beherrscht, ob die Oberhoheit in der Kirche beim Papst oder beim Konzil zu finden ist. Cusanus zählt bald nach seiner Ankunft 1432 zu einem der führenden Köpfe der konziliaren Partei, wechselt aber fünf Jahre später die Seiten und wird glühender Papist. Er erledigt diverse politische Missionen für den Papst und visitiert in dessen Auftrag die deutschen Lande, wo er als des Papstes Herkules wider die Deutschen bewundernd beschimpft wird. Er steigt 1448 zur Kardinalswürde auf, anerkennend der deutsche Kardinal genannt, denn der durchschnittliche Kardinal seiner Zeit war natürlich italienisch. Schließlich macht der Papst ihn 1450 zum Fürstbischof von Brixen, wobei Cusanus an den profanen Verpflichtungen des Amtes – man kann wohl ohne Umschweife sagen – scheitert.
Cusanus findet seine letzte Ruhestätte in seiner römischen Titularkirche Sankt Peter in Ketten. Das beträchtliche Vermögen erbt sein Geburtsort Kues an der Mosel. Dank der Rechtsform einer privaten Stiftung, die Cusanus wählt, überdauert seine Stiftung die Säkularisation und andere Unannehmlichkeiten der Weltgeschichte. Dank des Kurvenreichtums einer mäandernden Mosel wird der Ort von den gelegentlich ost-westlich marodierenden Militärs links liegen gelassen. So lebt der Name heute dreifach fort: in Form des Sankt Nicolaus-Hospitals als eine der ältesten Sozialeinrichtungen in deutschen Landen, in Form des Cusanusstifts mit einer weltberühmten Bibliothek und in Form des eingetragenen Warenzeichens Cusanus für Wein aus besten Mosellagen.
Der große Bogen, der Leben und Werk des Cusanus überspannt, ist sein unermüdlicher Kampf für den Zusammenhalt von Kirche und Staat. Wie Seele und Leib sich zu dem ergänzen, was Menschen ausmacht, so fügen sich das geistliche Reich der Kirche und die weltliche Gewalt des Staates zu dem zusammen, was die Gesellschaft ist. De concordantia catholica – Von der allumfassenden Eintracht lautet folgerichtig das Hauptwerk aus der konziliaren Periode des Cusaners, das er Ende des Jahres 1433 dem Konzil in Basel präsentiert und das ihn von einem Tag auf den anderen berühmt macht. Von den drei Teilen befasst sich der erste mit dem Kirchenbegriff (Ekklesiologie), der zweite mit einer grundlegenden Konzilstheorie und der dritte mit der Funktion des Reichs. In diesem weltlichen Teil III kommt das Wahlverfahren vor, mit dem die Kurfürsten den König wählen sollen.
Die charakteristische Idee dieses Wahlsystems ist die, daß jeder Wähler für sich nach bestem Wissen und Gewissen die Kandidaten in aufsteigender Rangfolge anordnet und diese Rangzahl auf den zugehörigen Stimmzetteln markiert. Auf dem Stimmzettel für den Kandidaten, der nach Meinung des Wählers zuunterst rangiert, kennzeichnet der Wähler also die unterste Rangzahl 1, auf dem Stimmzettel für den zweituntersten die Rangzahl 2, auf dem für den nächstbesten die Zahl 3 und so weiter bis zum Besten, der die höchste Rangzahl erhält. Sieht zum Beispiel der Wähler im Kandidaten Sigismund den besten von 10 Kandidaten, so markiert er auf dem mit Sigismund überschriebenen Zettel die Zahl 10. Und zwar nicht, so die didaktisch wertvolle Anweisung des Cusanus, indem er eine der vorgeschriebenen Rangzahlen ankreuzt, abhakt oder durchstreicht, sondern indem er einen ordentlichen, sauberen und adretten Überstrich setzt, um der wilden Kleckserei illiterater Kurfürsten Einhalt zu gebieten.
Natürlich besitzen auch wir in unserer Augsburger Universitätsbibliothek meterweise Bücher zum Thema, die schön systematisch einander stützen, auf den Regalen hinten links. Allein, es war durchaus kein leichtes für mich, den Weg nach hinten links zu finden. Herr Immenkötter hat mir geholfen hat, das Richtige herauszupicken. Das Richtige, das ist die autoritative Edition der Concordantia catholica, die iussu et auctoritate – auf Beschluß und im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften von Gerhard Kallen 1963 herausgegeben wurde. Leider auf lateinisch, so muß ich als ungekrönter Illiterat bekennen. Was aber auch wieder nichts macht, weil mir die einschlägigen Stellen Herr Heinz als zuständiger Prorektor ruckizucki eingedeutscht hat. Seit 1977 gibt es eine französische Concordance catholique. Und seit 1995 kommt eine englische Catholic Concordance hinzu. Dort wird gleich in Fußnote 2 verraten, was es mit der deutschen Übersetzung auf sich hat: sie ist «being prepared by Hans Gerhard Senger of the University of Cologne,» und das war 1995 genauso richtig wie 2001. Wie sehr identitätsstiftend das Projekt wirkt, wird aus seiner E-Mail-Adresse deutlich, CuSeng at Uni-Köln lautet sie.
Nun gibt es auf der Zeitachse zwei Richtungen, in die wir uns fortentwickeln können. Wir können näher heranspringen an unsere Zeit, und da das näher liegt, machen wir das zuerst. Oder wir können weiter in die ferne Vergangenheit zurückgehen. Das will ich dann als letztes tun und der retardierende Effekt ist vielleicht ganz passend, um den Höhepunkt in der tiefen Vergangenheit genüßlicher zu erleben.
In unserer zeitgenössischen Literatur über Wahlsysteme ist Nicolaus Cusanus ein Anonymus. Sein Wahlsystem aber gehört zum Standardstoff, ist wohlbekannt und firmiert unter dem Namen System von Borda.
Charles de Borda wurde 1733 in Dax geboren, und seine Heimatstadt schwärmt heute noch von ihm. Es gibt eine Rue de Borda, ein Lycée de Borda, ein Musée de Borda. Es gibt eine Société de Borda, die mit seinem Konterfei wirbt, was ich erstaunlich finde. Und es gibt, was ich noch erstaunlicher finde, ein Monument de Borda. Erstaunlich finde ich das, weil die Literatur ärgerlich darauf verweist, daß Borda gesichtslos auf dieser Welt lebte. Kein zeitgenössisches Bild von ihm ist überliefert, kein Porträt und keine Büste. Ein amerikanischer Kollege besteht mit dem dortigen Pragmatismus darauf, daß nur eine Ursache diese Wirkung erklären kann: Borda muß selten häßlich gewesen sein.
Es war mir deshalb ein Bedürfnis, im Sommerurlaub in Dax vorbeizufahren und mir selbst ein Bild zu machen. Die Sekretärin der Société de Borda klärte mich kurz und bündig auf, in einem Tonfall, den sie angemessen hielt für einen kaum des Französisch mächtigen germanischen Alemannen, der ihre Bewegungsfreiheit im Büro bedrohlich beschränkt. Es ist einfach so. Borda hat nicht verdient, daß es kein Denkmal von ihm gibt. Deshalb hat die Société beschlossen, den Chevalier typique de cette periode auf den Sockel zu setzen und den Namen Borda drunter zu schreiben. Also, meine Damen und Herren, auf nach Dax, wenn sie den durchschnittlichen Chevalier der französischen Revolution sehen wollen.
Borda war Marine-Ingenieur, Geodät, Naturwissenschaftler. Er verbessert die Schiffsuhren, er ersetzt den Sextanten durch ein genaueres Navigationsgerät, er vermißt – zusammen mit Delambre und Méchain – den Längengrad von Dünkirchen nach Barcelona.
Und: Es ist Borda, der die neue Längeneinheit Meter nennt und damit dem metrischen System zum entscheidenden Durchbruch verhilft. Nur dank Borda, meine Herren und Damen, bin ich 1 Meter 75 Zentimeter groß geworden. Hören Sie sich an und beklagen Sie mit mir, was die moderne Zeit aus meiner Größe zu machen drohte, hätte sich einer der anderen Vorschläge durchgesetzt. Ich wäre dann 1 Stadion 75 Zentistadien groß. Oder schlimmer: 1 Ilias 75 Zentiiliaden. Am schlimmsten gar: 1 Odyssee 75 Zentiodysseen. Borda de mètre: Ich würde sagen, er stand auf der Gewinnerseite der High-Tech-Offensive seiner Zeit.
Auf der Verliererseite: Condorcet. Condorcet war ein Repräsentant der Aufklärung par excellence, Mathematiker, Philosoph, Enzyklopädist, Sekretär der Akademie der Wissenschaften, Autor einer neuen Verfassung, Präsident der Nationalversammlung. Als Girondist verurteilt kann Condorcet sich über ein Jahr lang verstecken. Am Tage nach der Verhaftung findet man ihn in seiner Zelle: tot.
Beide, Condorcet und Borda, waren Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, der eine in der philosophischen Klasse, der andere in der naturwissenschaftlichen. Die beiden Herren kannten sich gut und verstanden sich schlecht. Der Streit, mit dem sie ihr eigenes Wahlsystem verteidigen und das des anderen angreifen, ist so bunt und bitter, daß er noch heute der Forschung Freude bereitet. Und Enea Silvio lächelt, wenn er liest, wie Condorcet in seiner Einleitung sorgfältig vermeidet, Borda beim Namen zu nennen, und statt dessen von dem Géomètre célébre schreibt, der eigentlich nichts zum Thema veröffentlicht hat.
Beziehungsweise, wie in einer Fußnote nachgeschoben wird, daß das wenige, was er doch veröffentlicht hat, Condorcet erst nach Fertigstellung seines Essays bekannt wurde. Und Condorcet muß lange an seinem Essay gearbeitet haben, denn die Fußnote findet sich zwar erst auf Seite 179, aber immer noch in der Einleitung.
Condorcets Wahlsystem besteht aus einer Abfolge von Zweikämpfen, in der jeder Kandidat gegen jeden anderen Kandidaten antritt. Wer in den meisten paarweisen Vergleichen siegt, gewinnt die Wahl. Es ist nicht ganz so offensichtlich, doch ist auch das Cusanus/Borda-Wahlsystem darstellbar in einer Abfolge von Zweikämpfen. Aber dann gewinnt nicht, wer in den meisten Zweikämpfen siegt, sondern wer in der Summe über alle Zweikämpfe die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Alles klar? Noch einmal für alle, in der Sprache des Fußballs. Beim System Cusanus/Borda wird deutscher Meister, wer in der Saison die meisten Tore schießt, beim System Condorcet, wer die meisten Spiele gewinnt. Daß die beiden Systeme verschieden sind, ist sogar dem Deutschen Fußballbund klar. Die Heidelberger Edition der Concordantia Catholica suggeriert per Fußnote, sie seien gleich.
Woran liegt das? Wissen die Mediävisten nicht, daß es die quantitativen Sozialwissenschaften gibt? Umgekehrt: Das Wahlsystem von Condorcet ist dasselbe wie das von Lull, auf den wir gleich zu sprechen kommen. Aber in der Wahlliteratur über Condorcet wird Lull zum Anonymus genauso wie vorher Cusanus bei Borda. Wie kann das sein? Ist unseren Politikwissenschaftlern unbekannt, daß wir es ohne Mittelalter gar nicht bis in die Neuzeit geschafft hätten? Als Mathematiker ist es mir nicht erlaubt, diese Fragen zu beantworten. Wahrscheinlich ist mir sogar verboten, sie überhaupt zu stellen. Also hören wir auf zu zetern. Geben wir nüchtern zu den Akten, daß der Übergang vom Wahlsystem Lull/Condorcet, das ein Turnier von Zweikämpfen darstellt, zum Wahlsystem Cusanus/Borda, das in einem einzigen Durchgang die Rangzahlen der Kandidaten abfragt, einen Paradigmenwechsel darstellt, nach dem Thomas Kuhn sich die Finger geleckt hätte.
Neues Spiel, neues Glück: Lull. Auf Katalanisch: Ramon Llull. Latinisiert: Raimundus Lullus. Französisch: Raymond Lulle. Müssen Sie ihn kennen? Ich kannte ihn nicht. Wären Sie mir vor zwei Jahren mit Lull gekommen, so hätte ich gedacht, Sie wollten mir von den Fortschritten Ihres jüngsten Enkelkindes erzählen. Weit gefehlt. Lull ist ein Großer der Weltgeschichte, geboren in das katalanische Königreich, als es im hohen Mittelalter von Mallorca aus das westliche Mittelmeer beherrschte.
Lull. Familienstand: verheiratet, zwei Kinder. Beruf: Staatssekretär für die Erziehung der Königskinder. Nach einem Bekehrungserlebnis 1263 Abfindung der Familie und Aufgabe der gesicherten Beamtenlaufbahn. Lull will sich mit seiner ganzen Person in den Dienst Gottes stellen. In einer Phase der Meditation setzt er sich das Ziel, die christliche Wahrheit unter Arabern und Juden zu verbreiten, und zwar auf seine Art.
Was das heißt, erzählt ein farbenfroher Comicstrip im Breviculum, der Prachtausgabe Lullscher Schriften für die Königin von Frankreich und Navarra. Breviculum, das könnte übersetzt werden mit: noch kürzer als kurz, eine Art Feldpostausgabe. Das Gegenteil ist der Fall. Das Werk hat Plakatgröße, und zum Umblättern braucht man mindestens zwei Bedienstete. Breviculum, richtig eingedeutscht, heißt: Lull light, der bunten Bilder Disneyscher Prägung viel, vom anstrengenden Text Lullscher Provenienz wenig. Das Original liegt im Bunker der Badischen Landesbibliothek, und selbst unser Faksimile-Nachdruck ist noch so wertvoll, daß Herr Hägele ihn nur im Hochsicherheitstrakt herzeigt.
Bilder und Sprechfahnen erzählen die folgende Geschichte. Lulls maurischer Arabischlehrer spricht sich offen gegen die Trinität und die Inkarnation aus, woraufhin Lull seinerseits die muslimische Jenseitsvorstellung als blödes Zeug verunglimpft. Der Lehrer antwortet mit dem Messer, aber Lull kann ihn im Kampf überwältigen und sperrt ihn ein. Während Lull noch überlegt, was er jetzt mit ihm machen soll, erhängt sich der Muslim aus Gram über sein ungehöriges Verhalten gegen seinen Herrn. Die Moral von der Geschicht? Machtvolle Demonstration von Autorität führt zu doppelter Niederlage. Der Heide ist im Unglauben gestorben und an die ewige Verdammnis verloren, und Lull hat die ungläubige Seele nicht für seinen christlichen Gott gewinnen können.
Fortan baut Lull auf die Kraft der Argumente und verzichtet auf die Macht der Autorität. Im Dialog, nicht durch Diktat will er sein Gegenüber zum Christentum bekehren. Im Buch vom Heiden und den drei Weisen, dessen Feldpostausgabe (Reclam 9693) ich Ihnen mitgebracht habe, beschreibt Lull, wie sich die Gesprächsteilnehmer in fortwährendem, gewaltfreiem Dialog aufeinander zu bewegen: der die Wahrheit suchende Heide und die ihm Hilfe anbietenden drei Weisen, der Christ, der Jude und der Muslim. So markiert Lull den Beginn einer Traditionslinie, die über einen allgemeinen Religions- und Glaubensfrieden (De pace fidei) des Nicolaus Cusanus und den weisen Nathan des Gotthold Efraim Lessing bis in unsere Tage fortwirkt. Theodor Pindl trifft ins Schwarze, wenn er sein exzellentes Nachwort in seiner exzellenten Feldpostausgabe überschreibt mit: Ramon Lull, Protagonist des interkulturellen Dialogs.
Lulls schriftstellerische Produktivität und rastlose Reisetätigkeit summieren sich zu einer schier ungeheueren Lebensleistung. Er schreibt auf katalanisch, arabisch, lateinisch. Er reist zu den Zentren von Wissen und Macht, zu Universitäten und Konzilien, zu Königen und Päpsten, die allesamt diesen impertinenten Missionar einer gewaltfreien Politik weniger gern kommen und viel lieber gehen sehen. Die posthume Rache der Verwaltungsbürokratie ist fürchterlich. Die Inquisition verleumdet ihn als Alchemisten, und die McCarthies jener Zeit setzen ihn auf den Index wegen unorthodox activities. Vergebens. Im 15. Jahrhundert, zur Zeit der Renaissance, wird Lull wiedergeboren und seine Schriften werden in ganz Europa gelesen. Der kleine Stiftsdekan Cusanus kopiert mit eigener Hand, der große Fürst Lorenzo de Medici lässt kopieren.
Nach den Verzeichnissen von Lulls Werken, schon zu seinen Lebzeiten angelegt, hat Lull sich an drei Stellen in seinem Schrifttum über Wahlsysteme geäußert. Immer schon bekannt war das Kapitel 24 in seinem Entwicklungsroman Blaquerna.
Blaquerna und Natanne, ein junges Mädchen und ein junger Mann, die hatten einander so lieb, daß ihre Eltern sie dauerhaft verkuppeln möchten. Aber die jungen Leute verweigern sich diesem Treiben und wollen statt dessen ihr Leben der religiösen Vervollkommnung widmen. Natanne geht ins Kloster und wird dort schließlich zur Äbtissin gewählt. Auch Blaquerna bringt es zum Abt, aber als Mann bietet die Kirche ihm mehr. Als nächstes wird er Bischof, wobei er sich gegen die Wahlintrigen seines Konkurrenten zu wehren hat. Dann wird er Papst, wobei er die Kirche an Haupt und Gliedern erfolgreich reformiert. So erfolgreich, daß er schließlich guten Gewissens das tun kann, was er angesichts all dieser Ämter immer schon tun wollte, nämlich resignieren, um als Eremit zur wahren Vollkommenheit zu finden.
Das Wahlsystem, das Lull in Kapitel 24 für die Wahl Natannes zur Äbtissin entwirft, ist das des Condorcet. Um die Einzelheiten zu verstehen, half mir Herr Abel beim Lesen der französischen Edition. Dauerhafte Wirkung zeigte seine mit Lullscher Penetranz eingeworfene Frage, warum ich ihm mit einer französischen Fassung komme und nicht mit einer katalanischen. Und Recht hat er. Der Roman ist in katalanischen, kastillischen, lateinischen, französischen und okzitanischen Handschriften überliefert. Darunter sind nicht nur die katalanischen Handschriften die ältesten, sondern die schönste davon liegt in Rufweite von hier in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Es war Herrn Hägele ein Vergnügen, den Kollegen dort um eine Kopie des Kapitels 24 zu bitten.
Zusammen mit Herrn Reif, der nun den Lehrstuhl von Herrn Töpfer innehat – und Herr Töpfer ist durch seine Informatik-Vorträge in diesem Kreis sicherlich noch in guter Erinnerung – , bereiten wir eine Internetpräsentation vor, die Handschrift, Transkription und Übersetzung auf einem Bildschirm zeigt und die Teilsätze, die sich entsprechen, optisch miteinander verknüpft. [Anm. 3]
Um die Wiederentdeckung der beiden anderen Wahlschriften von Lull, die über lange Jahrhunderte als verschollen galten, richtig goutieren zu können, müssen wir endgültig in die Unterwelt der Fußnoten hinabsteigen.
Die Heidelberger Edition der Concordantia catholica schreibt im Kleingedruckten Folgendes:
Vieles im Leben ist mit magno studio – mit großer Mühe verbunden, weniger allerdings das Abschreiben. Die Freude an kollegialem Sarkasmus hat offensichtlich nicht damit geendet, daß man Enea Silvio zum Papst gewählt hat. Und so wie ein Biograph des Thomas Ebendorfer darauf hinweist, daß in dessen Leben gar kein Platz war für 22 lange Jesaja-Jahre, so ist auch der Tenor dieser Fußnote schlicht und einfach falsch und entlarvt nur die Ignoranz, mit der die Academia litterarum Heidelbergensis mit Wahlsystemen und deren quantitativen Aspekten umgeht.
Wenn man Honeckers Aufsatz aus dem Jahre 1937 mit magno studio liest, dann spürt man den Jubel des Wissenschaftlers, eine als verschollen geglaubte Handschrift des Lull wiedergefunden zu haben, nämlich als Abschrift von der Hand des Cusanus, vermutlich angefertigt 1428 während eines Studienaufenthaltes in Paris. Und wohl keiner kann der Schlußfolgerung widersprechen, daß diese Vorlage zur Meinungsbildung des Cusanus beigetragen hat. Aber das war's auch schon. Zwar rückt Honecker das Wahlsystem des Cusanus und das des Lull sehr eng aneinander, doch sagt er nirgends, daß sie dieselben seien und Cusanus bei Lull einfach nur abgeschrieben habe. Wenn das doch behauptet wird, wie in der zitierten Fußnote, dann aus meiner betroffenen Sicht als beleidigter Mathematiker nur deshalb, weil manche Mitmenschen gnadenlos alles, was mit Zahlen zu tun hat, über einen Leisten schlagen. Die Amerikaner haben dafür das unübersetzbare Attribut innumerate geprägt, was nicht nur so böse klingt wie illiterate, sondern auch so gemeint ist.
Daß Honecker die Unterschiede in den beiden Wahlsystemen nicht herausarbeitet und nicht in die Ideengeschichte demokratischer Willensbildung einbettet, mag man ihm, der seinen Aufsatz im Jahre des Heils 1937 veröffentlicht, nachsehen; daß die Heidelberger Akademie diese Auslassung sanktioniert und dem Nicolaus in einer Note auf die Füße springt, nicht. Die französische Übersetzung entzieht sich meiner Schelte, in dem sie sich aseptisch frei von Fußnoten hält. In der englischen Übersetzung heißt es: «The proposed electoral system is taken from Ramon Lull,» was – etwas sarkastisch formuliert – sine magno studio ex Gerhardi Kallen Heidelbergensi editione exscriptum est – ohne große Mühe aus Gerhard Kallens Heidelberger Edition abgeschrieben ist. Ich bin gespannt, was der Kollege CuSeng at Uni-Köln aus der Fußnote machen wird, wenn er die deutsche Übersetzung der Concordantia catholica fertigstellt.
Wort und Zahl haben halt gelegentlich ihre liebe Last miteinander, meine Damen und Herren: The Two Cultures. Michel und Marianne auch. Denn fraglos gehört Cusanus zum germanischen Kulturgut, Lull zum romanischen. Schauen wir über die Grenze. Die Universität Grenoble nimmt 1963 die Habilitationsschrift Raymond Lulle – Philosophe de l'action an, in der Armand Llinarès einen hervorragenden Einblick in das Lullsche Œuvre gibt. In Fußnote 5 auf Seite 173 wird der uns schon bekannte Honecker erwähnt und für weitere Einzelheiten auf die Bibliographie verwiesen. Dort leider ist Honecker abhanden gekommen und in den anderen deutschen Referenzen irritieren zahlreiche Druckfehler – in einem ansonsten vorbildlich redigierten Werk.
Vier Seiten weiter hebt Llinarès hervor, daß selbst in neuester Zeit Schriften des Lull wieder auftauchen, die über Jahrhunderte als verschollen galten. Beispielsweise, so wird in Fußnote 25 aufgelistet, die Ars electionis. Überraschenderweise wird diese Wiederentdeckung aber nicht Honecker 1937 gutgeschrieben und sein Fund im Codex Cusanus 83 genannt. Statt dessen wird auf Pérez Martínez verwiesen, der die Schrift 1959 – also 22 lange Jahre später – im Codex Vaticanus latinus 9332 der Vatikanischen Bibliothek gesehen habe. Also Honeckers Fund doch kein Unikat? Liegt eine Variante derselben Schrift im Vatikan? Das ließ mich hoffen. Denn in Honeckers Transkription sind an mehreren Stellen Rasuren verzeichnet, insbesondere dort, wo es um die Details der Stimmenverrechnung geht. Eine zweite Kopie desselben Textes sollte erlauben, diese Lücken zu schließen.
Als nächstes war Warten angesagt, warten auf die Post. Die Handschriftenkopien aus Kues und Rom trafen dann, wie es der Zufall wollte, in derselben Oktoberwoche ein, sozusagen Hand in Hand. Wenig später wurden diese Papierkopien ergänzt durch eine Filmkopie des Raimundus-Lullus-Instituts von der Universität Freiburg im Breisgau. Ein Vergleich der Schriften macht klar, daß es sich nicht um Varianten desselben Textes handelt, sondern um zwei eigenständige Schriften, die beiden Wahlschriften, die schon in Lulls mittelalterlichen Werkverzeichnissen aufgeführt werden. Sie schlummerten also fast ein halbes Jahrhundert lang im Schoß der Lull-Forschung, ohne in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen worden zu sein. Im zeitlichen Ablauf von Lulls Schaffen ist der bisher ungelesene Text aus dem Vatikan der älteste. Er ist auch der längste, enthält die meisten Einzelheiten und hilft damit, Unklarheiten in den beiden späteren Wahlsystemdarstellungen zu klären.
In mehr persönlichen Worten muß ich gestehen, daß ich in den freitagmorgendlichen Arbeitssitzungen Herrn Hägele mit großem Gewinn zugeschaut habe, wie ein Philologe einen Buchstaben nach dem anderen entziffert, bis in der Summe der Text konstituiert ist. Daß das gelungen ist, grenzt angesichts des Schriftbilds für mein einfaches Gemüt als Mathematiker an ein Wunder. Übrigens ist bekannt, wer der Schmierfink war, der die Kopie abgeschrieben hat. Natürlich ein Mediziner, Pier Leoni, Leibarzt von Lorenzo il Magnifico, dem großen Medici. Nicht bekannt ist, wann er seine Abschrift angefertigt hat und, vor allen Dingen, von welcher Vorlage. Was ich auch dazugelernt habe, ist, daß das Gegenteil einer Überschrift nicht eine Unterschrift ist, sondern eine Schlußschrift. Denn im vorliegenden Fall ist gerade das der Ort, wo der Titel der Schrift zu finden ist: Finis artifitii electionis personarum – Dies ist das Ende unseres Systems zur Personenwahl.
Meine Damen und Herren, dies ist auch das Ende unserer Schatzsuche, die für mich selbst Einblicke in viel mehr Büros unserer Universität und den darin betriebenen Wissenschaften eröffnet hat, als ich zwanglos in meinem Vortrag erwähnen konnte. Allen gilt mein aufrichtiger Dank für die Hilfe, die mir zuteil wurde. Schließen möchte ich sachgerecht: mit einer Schlußschrift, jubiläumsgerecht: mit der aus der Concordantia Catholica des Nicolaus Cusanus, und zeitgerecht: mit ihrer Projektion auf den heutigen Abend:
Damit endet die Zusammenstellung der umfassenden Wahlsysteme aus den ver-
schiedenen bewährten Schriften der Alten, die ich, Friedrich Pukelsheim,
Professor für Stochastik und ihre Anwendungen an der Universität
Augsburg, Doktor der Naturwissenschaften, als Allergeringster
diesem hohen Konsilium heute Abend in aller Demut unter-
breite. Ich werde auf nichts von alledem beharren, es
sei wahr, oder als wahr verteidigen oder sonst
etwas behaupten, was nicht die hohe Ver-
sammlung als richtig und wahr beur-
teilt. Ich bin bereit, in allem
und von allen Rechtschaf-
fenen mich verbessern
zu lassen.
Zuvor aber, meine Damen und Herren, danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Anmerkung 1. Manuskript eines Vortrags, gehalten am 5. Februar 2001 im Augsburger Hochschulkreis der Katholischen Akademie in Bayern. Ich danke H.G. Senger für die Richtigstellung diverser Details in der vorliegenden Druckfassung.
Anmerkung 2. G. Hägele/F. Pukelsheim: «Llull's Writings on Electoral Systems.» Studia Lulliana 41 (2001) 3-38.
Anmerkung 3. Internet: http://www.uni-augsburg.de/llull