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Das Parlament, 52. Jg., Nr. 27/28, 8./15. Juli 2002, Seite 14 (Das politische Buch)


Klassiker der Wahlliteratur in Neuauflage / Von Friedrich Pukelsheim

Wähler, Gewählte und Parteien

Beide hier zu besprechende Bücher sind Klassiker: Nohlens ``Wahlrecht und Parteiensystem'' und Youngs ``Fair Representation''. Beide Bücher ergänzen sich in dem, was sie zu Wahlverfahren zu sagen haben: Nohlen erweist sich als der stupende Generalist, Balinski und Young als die akribischen Spezialisten.

Nohlen vermittelt eine globale Gesamtschau, wie Wahlsysteme gestaltet sind und wie sie auf die Parteienlandschaft ausstrahlen. Zu Beginn baut er die Systematik auf: begriffliche Festlegungen, technische Verfahrenselemente und ordnende Klassifikationen. Mehrheitswahl und Verhältniswahl dienen dabei als Orientierung. Nohlen weist ihnen eine doppelte Funktion zu, nämlich einerseits als Entscheidungsregel, die Methode zur Übertragung von Stimmen in Mandate festzulegen, andererseits als Repräsentationsprinzip, in unterschiedlicher Weise zur Konsensfindung bei der Regierungsbildung beizutragen.

Im zweiten Teil stellt Nohlen zunächst Ländergruppen einander gegenüber, deren gemeinsame kulturelle Wurzeln, jüngere Geschichte und regionale Nähe sie vergleichbar machen. Führt diese Übersicht den Leser in einer rastlosen Reise fast durch die ganze Welt, so nimmt sich Nohlen anschließend Zeit, die Wahlsysteme einzelner Länder genauer zu betrachten.

Dabei fügt es sich gut, dass die Länder, die uns besonders interessieren, auch aus wahlsystematischer Sicht Besonderes zu bieten haben: Großbritannien (relative Mehrheitswahl), Frankreich (absolute Mehrheitswahl), Weimarer Republik (reine Verhältniswahl), Bundesrepublik Deutschland (personalisierte Verhältniswahl), Spanien (Verhältniswahl in Wahlkreisen unterschiedlicher Größe), Irland (Wahl mit übertragbaren Einzelstimmen), Russland (segmentiertes Wahlsystem) und Ungarn (kompensatorisches Wahlsystem).

Dass gerade dieser Teil über die drei Auflagen hinweg gewaltig an Umfang zugenommen hat, legt ein beredtes Zeugnis von dem Wissen ab, das dem Autor über die Jahre zugewachsen ist. Die subjektiven Einsichten und die phänomenologischen Beschreibungen, die Nohlen zusammenträgt, bieten dem Leser eine Fundgrube an Fakten, welche Auswirkungen unterschiedliche Wahlsysteme haben, hier wie andernorts.

Balinski und Young bieten in Ansatz und Umfang einen kontrastreichen Gegensatz, indem sie ihren Zugang auf objektivierbare Methoden und quantitative Techniken beschränken. Sie konzentrieren sich auf ein Land, nämlich auf die Zuteilung der Sitze des Repräsentantenhauses an die US-Bundesstaaten, weshalb das Buch leider nur im englischen Original und nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Solche Selbstbeschränkung hat zur Folge, dass die zweite Auflage sich kaum von der ersten unterscheidet, selbst die Seitenzählung wurde beibehalten. Neben wenigen unvermeidbaren Korrekturen war nur der Datenanhang zu aktualisieren.

Balinski und Young bieten einen geradezu spannenden Rückblick, wie in der amerikanischen Geschichte die Politiker um eine dauerhafte Regelung gekämpft haben, die Sitze des Repräsentantenhauses den einzelnen Bundesstaaten zuzuteilen. Ausgangspunkt ist der Auftrag der Verfassung, die Sitzzuteilung gemäß den jeweiligen Bevölkerungszahlen vorzunehmen.

Wie dieser Verfassungsauftrag von den Generationen umgesetzt wurde, wie die Politiker als Vertreter parteilicher Interessen das Problem sahen, wie ein wachsendes Staatsgebilde mit einer enormen Migrationsrate - Go west! - das Problem anpackte, all dies liest sich wie ein Krimi. Diesen Krimi auf einhundert Seiten kompaktifiziert zu haben, ist eine Glanzleistung der Autoren. Dass ihrer Geschichte der harte wissenschaftliche Kern nicht abhanden kommt, dafür stehen die im Anhang dargelegten theoretischen Überlegungen. Auch wenn der Anhang mit seinen Formeln gelegentlich überblättert werden dürfte, so vermittelt er doch jedem Leser das sichere Gefühl, dass die Erzählung des Hauptteils jeder Willkür entbehrt, sondern auf einem berechenbaren Fundament aufbaut.

Sitze im Repräsentantenhaus

Die amerikanische Verfassung zielt auf die gleiche Berücksichtigung aller Wahlberechtigten (vor der Wahl, ex ante). Die analoge Bestimmung in Deutschland ist der Verfassungsgrundsatz der gleichen Wahl, wonach jede Wählerstimme (nach der Wahl, ex post) in gleichem Maße in das Ergebnis einzugehen hat. Für die Wahl zum Deutschen Bundestag, die nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl stattfindet, hat die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit dies Ziel zur Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen konkretisiert; der Gleichklang mit dem amerikanischen Motto one person, one vote ist offenkundig. Dieser gemeinsame Nenner, woran sich die gesellschaftspolitische Akzeptanz von Zuteilungsmethoden orientiert, garantiert den Untersuchungen von Balinski und Young für unser deutsches Wahlsystem ein gerütteltes Maß an Aussagekraft.

Drei von Balinski und Young herausgearbeitete Paradoxien sollen das belegen. Sie beziehen sich auf die im Bundeswahlgesetz vorgeschriebene Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten, die verbunden wird mit den Namen des Engländers Thomas Hare (1806-1891) und des Deutschen Horst Niemeyer (*1931). Balinski und Young sprechen vom population paradox, das im deutschen System als Stimmenzuwachs-Paradoxie auftritt. Es weist auf mögliche Situationen hin, in denen alle Parteien an Stimmen hinzugewinnen bis auf eine, die Stimmen verliert.

Die sich anschließende Neuzuteilung macht den Transfer eines Mandats notwendig, das aber kurioserweise nicht vom Stimmenverlierer zu einem der Stimmengewinner wandert, sondern umgekehrt: Die Methode gibt dem einzigen Stimmenverlierer ein Mandat hinzu und nimmt einer der anderen Parteien, von denen sich alle verbessert haben, dieses Mandat weg! Nach der letzten Bundestagswahl 1998 wurde dem Wahlprüfungsausschuss eine Beschwerde vorgelegt, die der Stimmenzuwachs-Paradoxie nahe kommt.

Am bekanntesten ist das Alabama paradox, das erstmals 1880 auftrat, als eine angedachte Vergrößerung des Repräsentantenhauses bewirkt hätte, dass besagte Quotenmethode dem Staat Alabama einen Sitz weniger zugeteilt hätte. Eine Verteilungsrechnung, die einem Beteiligten etwas wegnimmt in einer Situation, in der es mehr zu verteilen gibt, wurde schon damals als paradox empfunden.

Entgegen dem Klang ihres Namens ist die Paradoxie aber nicht nur vergangene Geschichte des tiefen Südens der Neuen Welt. Sie kann auch hier und jetzt beobachtet werden, zum Beispiel bei der Stadtratswahl in Köln 1999. Zum Ausgleich von Überhangmandaten wurde gemäß Wahlgesetz der Stadtrat von 90 auf 94 Sitze vergrößert. Die vier Zusatzsitze bedeuteten für die siebtgrößte Partei das Aus: Im neunzigköpfigen Stadtrat wäre sie vertreten gewesen, im vergrößerten Stadtrat bekam sie nichts.

Die dritte Variante ist das new states paradox, dem im deutschen System die Parteienzuwachs-Paradoxie entspricht. Sie tritt in Fällen auf, in denen eine Minigruppierung hinzutritt, die zwar keine Chance auf einen Sitz hat, trotzdem aber einen Sitztransfer zwischen den größeren Parteien auslöst. Dieses Kuriosum konnte in der 15. Wahlperiode der Hamburgischen Bürgerschaft 1993-1997 beobachtet werden. Wurden bei der Zuteilungsrechnung die zwei fraktionslosen Abgeordneten berücksichtigt, erhielt die eine Partei vier Deputationssitze und die andere drei, wurden sie weggelassen, gab die Methode der einen Partei fünf und der anderen zwei Sitze. Dass unter den großen Parteien ein Sitztransfer ausgelöst werden kann, je nachdem, ob aussichtslose Minigruppen bei der Rechnung mitgeführt werden oder nicht, irritiert.

Nun sind Wahlsysteme von Umfang und Auswirkungen her gesehen extrem komplexe Systeme. Was dem einen paradox erscheint, fällt dem andern kaum auf, und was bei Balinski und Young ganze Kapitel füllt, findet bei Nohlen noch nicht einmal Eingang ins Sachregister. Es sollte deshalb hier nicht der Eindruck stehen bleiben, als würden Balinski und Young in ihrem Buch nur Beckmesserei betreiben. Stattdessen münzen sie die Analyse von Defekten um in die konstruktive Aussage, dass unter allen Zuteilungrechnungen es eine gibt, die positiv von den anderen absticht, nämlich die Divisormethode mit Standardrundung. Nicht nur ist sie frei von den gerade beschriebenen Paradoxien, sie kommt auch in quantitativ wohlbegründeter Weise dem amerikanischen Ideal von one person, one vote am nächsten (wie auch dem deutschen Ideal der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen).

Die Divisormethode mit Standardrundung ist hierzulande durchaus wohl bekannt. Sie firmiert im Datenhandbuch des Bundestags unter den Namen des Franzosen André Sainte-Laguë (1882-1950) und des Deutschen Hans Schepers (*1928). Für seine interne Arbeit (Besetzung der Ausschüsse und Vergabe der Ausschussvorsitze) hat der Bundestag die exzellenten Vorzüge der Methode wahrgenommen und schon in der 9. Wahlperiode 1980 auf sie umgestellt.

Im Nachgang zur letzten Bundestagswahl hat der Wahlprüfungsausschuss einstimmig angeregt, auch im Bundeswahlgesetz die Divisormethode mit Standardrundung (unter dem Namen Rangmaßzahlverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers) zu übernehmen. Wer für diese Initiative die Begründung sucht, findet sie natürlich in den Protokollen des Ausschusses, oder eben auch bei Balinski und Young. Bei Letzteren ist das Lesevergnügen deutlich größer.

Dieter Nohlen
Wahlrecht und Parteiensystem

3. Aufl. Leske + Budrich, Opladen 2000; 479 S., 14,90 €

Michel L. Balinski/H. Peyton Young
Fair Representation
Meeting the Ideal of One Man, One Vote

Second Edition. Brookings Institution Press,
Washington DC 2001; 195 S., 45,89 €

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