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Fairness - Ökumenische Hochschulgottesdienste im Wintersemester
2002/2003 – Stadtpfarrkirche St. Moritz Augsburg,
Hanspeter Heinz (Hg.), Universität Augsburg: Augsburg 2003,
23-26
Gedanken zum 18. Augsburger Hochschulgottesdienst, 19. Januar 2003, St. Moritz, Augsburg
von Friedrich Pukelsheim
Aber das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setzte auf den HERRN HERRN, dass ich verkündige all dein Tun. Dies ist ein Bibelspruch, aus dem 73. Psalm der letzte Vers 28, für mich von besonderer Bedeutung, denn es ist mein Konfirmationsspruch. Dass ich ihn mir gleich vom ersten Tag an gemerkt habe, hat seinen guten Grund und kam so. Am Konfirmationstag war Herr Pastor Strathmann mitsamt Frau zum festlichen Mittagessen in unsere Familie eingeladen. Als sie schellten, wurde aus gegebenem Anlass der kleine Konfirmand Friedrich vorgeschickt, um zu öffnen. Und der Herr Pastor stand noch auf der halben Treppe, als er mich stolz und mit bärenstarker Stimme begrüßte: «Na, Friedrich, wie hat dir meine Predigt gefallen?» Das, so schien mir damals und so scheint mir noch heute, ist immer eine schwierige Frage und besonders dann, wenn es ein Konfirmand ist, der sie beantworten soll. Es stellte sich eine feierliche Stille ein, in die hinein Pastor Strathmann wohlmeinend nachstieß: «Aber hast du denn nicht gemerkt, dass ich über deinen Konfirmationsspruch gepredigt habe?» Es sind dies die Situationen, in denen man als junger Mensch heftig hofft, dass die Engel, von denen die Alten sungen, doch bitte wirklich existieren mögen. Mein rettender Engel war Frau Pastorin, wobei ich hinzufügen sollte, um der political correctness willen und auch, damit meine Liturgin Frau Pastorin Haller-Beckmann hinterher nicht mit mir schimpft, dass mit «Frau Pastorin», da sich das alles ja vor langer Zeit in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts abspielte, natürlich die Frau vom Herrn Pastor bezeichnet ist. Mit anderen Worten, Frau Pastorin hatte Herrn Pastor gut im Griff. Sei es, dass sie die von ihm an mich gerichtete Frage als nicht ganz fair empfand, sei es, dass sie einfach dankbar war, weil sie ja gerade wegen mir an diesem Tag nicht selber kochen musste, jedenfalls beendete sie die peinsame Stille und tönte vorwurfsvoll: «Aber Wilhelm! Dat ist doch nu heut dem Jung sein Konfirmationstag, un da kann der sich nit auch noch merken, wat du predigst!» Pastor Strathmann hatte den Spruch gewählt, weil er meinte, dass aus mir doch auch einmal ganz gut ein Pastor werden könnte. Wäre sein Wunsch in Erfüllung gegangen, dann würde ich jetzt hier eine Predigt halten und Sie mit «liebe Gemeinde» begrüßen. Aber es kam alles ganz anders. Aus mir wurde ein Mathematiker, ein voraussetzungsloser Sünder, und mangels höherer Weihen ist dies keine Predigt, sondern eine Ansprache, und ich begrüße Sie folglich ganz normal mit:
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
Das Thema der ökumenischen Hochschulgottesdienste in diesem Semesters heißt Fairness. Das Wort selbst ist solides Denglisch und als solches ein deutsches Kuriosum. Das Französische etwa kennt keine Fairness und der kleine Robert wie auch der große Larousse melden Fehlanzeige. Trotzdem, Fairness ist ein Import, der dem Deutschen gut tut, meine ich, und wir können ja durchaus analoge Exporte vorweisen, einen sehr friedlichen Kindergarten fürs Englische oder einen weniger friedlichen Feldmarschall fürs Russische. Aber ich zweifle, ob eine solche philologische Außenhandelsbilanz uns dem Verständnis des Begriffs Fairness näher bringt.
Für mich als Mathematiker ist Fairness eine Relation, das heißt, eine Beziehung zwischen zwei oder mehr Subjekten. Ich gehe fair um mit jemandem anderen, jemand anderes ist fair zu mir. Fairness ist etwas, dass zwischen mehreren Menschen zum Tragen kommt (oder auch nicht). Fairness ist ein Mittelding zwischen dem Gleichheitsanspruch, auf dem wir unsere demokratische Gesellschaft aufbauen, und dem Freiheitsanspruch, den jeder von uns für seine persönliche Verschiedenheit geltend macht. Es ist unmöglich, dass wir alle gleich ausschauen, alle das Gleiche essen und alle den gleichen Lebenspartner haben, und schrecklich wäre es auch. Die gleichmachenden Singulare «der Deutsche», «der Franzos», «der Jude», «der Untermensch» klingen grausam und lassen keinen Platz für einen fairen Umgang miteinander, wie vor Jahren Alfred Grosser in einer Festansprache im Goldenen Saal ausführte.
Aus meinem aktuellen Forschungsbereich der Wahlverfahren kann ich ein weiteres Beispiel hinzufügen: «Der Wähler». Ich werde misstrauisch, wenn ich in einem Aufsatz über Wahlsysteme von «dem Wähler» lese. Wer ist diese singuläre Kreatur? Ein Prototyp? Ein Retortenwähler? Ein Klon? «Der Wähler» im Singular ist eine akademische Fehlleistung und weckt in mir den Argwohn, dass die Vielfalt dieser Welt sprachlich eliminiert wird, um die Realität an die Theorie anzupassen, anstatt die Theorie an die Realität. «Die Wähler» muss es heißen, ein satter Plural, und dass statt dem Singular der Plural gilt, darf uns doch zu Recht stolz machen.
Um wie viel liebevoller klingt der Plural: «Die Deutschen», «die Franzosen», «die Juden», «die Menschen», und um wie viel christlicher. In der Kraft zur Differenzierung liegt unsere Chance, nicht in der Gleichmacherei, und wenn wir fair miteinander umgehen, werden wir es schon schaffen. Gönnen wir uns die Freiheit eines Christenmenschen, anders sein zu dürfen als unsere Nächsten, und vertrauen wir darauf, dass wir in unserer eigenen Andersheit nicht nur vor dem Grundgesetz gleich sind, sondern auch vor Gott. Ob das so klappt, hängt von der Vorstellung ab, die wir von Gott in uns tragen.
Viel anfangen kann ich in meinem mathematischen Kopf mit einem Gott, der uns in unserer Vielfalt annimmt, der mit jedem Einzelnen von uns mitgeht in seiner einzigartigen Andersheit. Von verwandter Toleranz zeugen das kusanische Wort von der una religio in rituum varietate - die eine Religion mit einer Vielfalt von Riten, oder eher: die eine Religion trotz einer Vielfalt von Riten, wie auch das llullsche Bild einer friedvollen Diskussion zwischen Christen, Juden und Muslimen, mit dem Frau Pastorin Haller-Beckmann den Handzettel zu unserem Gottesdienst geschmückt hat. Nicolaus Cusanus lebte vor mehr als fünfhundert Jahren, und Ramon Llull, das ist knapp tausend Jahre her. Aber so sehr haben sich die Zeiten nicht geändert. Zu Beginn dieses Semesters besuchte ich zu einem Forschungsaufenthalt Taiwan und meine Gastgeberin - eine Christin übrigens in der dortigen Diaspora - zeigte mir das buddhistische Heiligtum Fo Guan Shang. Die Offenheit und Religiosität, die die Menschen dort und die der Ort ausstrahlten, haben mich tief beeindruckt. Gehen wir als Christen fair um mit unseren Mitmenschen, die Nichtchristen sind? Ist in unserem Glauben an die Globalisierung Gottes Platz für Buddhisten? Oder ist das nur eine ferne Sorte von Heiden? Wieder hängt das von der Vorstellung ab, die wir von Gott in uns tragen.
Wenig anfangen kann ich mit einem «allmächtigen Gott». Wenn Gott sich in Allmacht erschöpft, wo kommen sie dann her, die Heiden, warum sind wir alle keine Engel, warum gibt es Böses auf dieser Welt? Die Fragen der Theodizee fallen nicht in den Kompetenzbereich eines Mathematikers. Man müsste, um sich damit richtig auseinander zu setzen, die höheren Weihen der Theologie haben. Man müsste nicht nur über den letzten Vers 28 sprechen, sondern über den 73. Psalm als Ganzes predigen. Nicht ich, natürlich. Ich halte nur eine Ansprache, und der Anspruch ist, dass sie höchstens halb so lang dauern soll wie eine Predigt. Aber, soviel wollte ich nur sagen und dank Pastor Strathmanns Wirken auch mit gutem Grund, das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf Gott, den Herrn, dass ich verkündige all sein Tun.