Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.09.2020, Nr. 208, S. 6
Fehlleistung Wahlrechtsreform
Die Parteiführungen von CDU, CSU und SPD wollen das Bundestagswahlrecht ändern. Ihr Vorschlag zur "Dämpfung" der Zahl der Abgeordneten ist jedoch wenig wirksam. Überdies ist er verfassungsrechtlich problematisch und demokratiepolitisch prekär. Von Professor Dr. Florian Grotz und Professor Dr. Friedrich Pukelsheim Kurz vor Mitternacht des 25. August 2020 verkündeten die Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD eine Einigung bei der Reform des Wahlrechts. Um eine weitere Vergrößerung des Bundestages zu verhindern, sollen ab 2021 "bis zu drei Überhangmandate unausgeglichen" bleiben und bei der Sitzverteilung im ersten Zuteilungsschritt "eine teilweise Verrechnung von Überhang- mit Listenmandaten der gleichen Partei ermöglicht" werden. Ab 2025 soll dann "die Zahl der Wahlkreise auf 280 reduziert" werden. Schließlich soll zeitnah eine Kommission aus Abgeordneten, Wissenschaftlern und weiteren Mitgliedern eingesetzt werden, um "Vorschläge zu weiteren Fragen des Wahlrechts" - insbesondere zur Senkung des Wahlalters, zur Dauer der Legislaturperiode und zur paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern im Bundestag - zu entwickeln. Die Koalitionsspitzen zeigten sich damit sichtlich zufrieden. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach von einem "fairen Kompromiss", der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans lobte die "wichtigen Bremsen, die da eingezogen werden", und die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer äußerte die Überzeugung, dass bereits der "erste Dämpfungsschritt" dazu beitragen werde, "dass der nächste Bundestag auf jeden Fall nicht größer wird als der jetzige". Es sei nun "an der Opposition, sich an diesen Schritten konstruktiv zu beteiligen". FDP, Grüne und Linke übten dagegen scharfe Kritik an dem Beschluss der Parteiführungen. Ist das der lang ersehnte Durchbruch bei der Wahlrechtsreform? Die Regelungen im Bundeswahlgesetz haben inzwischen eine Komplexität erreicht, die für Nichtspezialisten kaum noch nachvollziehbar ist. Immerhin wollen alle Parteien die übermäßige Vergrößerung des Parlaments eindämmen. Weil aber zugleich die Verbindung von Direktmandaten in Einerwahlkreisen und bundesweitem Zweitstimmenproporz erhalten bleiben soll, ist der Handlungsspielraum stark eingeschränkt. Die möglichen Reformoptionen setzen nicht nur unterschiedliche Schwerpunkte, sondern haben auch "Risiken und Nebenwirkungen". Daher sollte man die Messlatte nicht zu hoch legen und einen Änderungsvorschlag nicht gleich zurückweisen, weil er in bestimmten Hinsichten nicht optimal ist. Allerdings darf man von einer gelungenen Wahlrechtsreform erwarten, dass sie erstens die Vergrößerung des Bundestages deutlich zurückführt und die im Gesetz genannte Sollgröße von 598 Sitzen ernst nimmt, zweitens einer verfassungsgerichtlichen Prüfung standhält und drittens von einer breiten Mehrheit im Parlament mitgetragen wird. Der Koalitionsbeschluss erfüllt keines der drei Kriterien. Um diese Einschätzung zu begründen, blicken wir zunächst zurück. Die Reform des Bundestagswahlrechts beschäftigt Politik und Öffentlichkeit seit mehr als zwölf Jahren. Im Juli 2008 hatte das Bundesverfassungsgericht das bisherige Wahlsystem für verfassungswidrig erklärt. Der Grund war ein widersinniger Effekt, der 2005 bei einer Nachwahl in Dresden auftrat. Dabei konnte die CDU durch einen Verlust an Zweitstimmen einen Mandatsgewinn verbuchen. Ein solches "negatives Stimmgewicht" sollte durch eine gezielte Wahlrechtsänderung ein für alle Mal verhindert werden. Doch die Reform ließ auf sich warten. 2012 schritt Karlsruhe abermals ein, nachdem die Regierungskoalition aus Union und FDP eine für sie günstige, aber verfassungswidrige Wahlrechtsänderung beschlossen und die Opposition dagegen geklagt hatte. 2013 kam dann ein breiter Kompromiss zustande: Mit Ausnahme der Linken verständigten sich alle Bundestagsparteien, sämtliche Überhangmandate vollständig auszugleichen und so den proporzverzerrenden Effekt des negativen Stimmgewichts zu beseitigen. Seither wird die Sollgröße so weit erhöht, bis sich alle Direktmandate in die Verhältnisrechnung einfügen lassen. Das politische Einvernehmen für diese Reform konnte leicht hergestellt werden, weil alle Bundestagsparteien von den anfallenden Überhang- und Ausgleichsmandaten gleichermaßen profitieren. Das neue Wahlsystem hat nur den "Schönheitsfehler", dass die tatsächliche Bundestagsgröße weit über 598 Sitze hinauswachsen kann. Das passiert vor allem dann, wenn die stärkste Partei verhältnismäßig wenige Zweitstimmen erhält und trotzdem einen Großteil der Direktmandate gewinnt. Da in den Wahlkreisen die relative Mehrheit ausreicht, ist dieses Szenario auch ohne Stimmensplitting möglich. 2017 genügten etwa der siegreichen Wahlkreiskandidatin in Berlin-Mitte 23,5 Prozent der Erststimmen für ihr Direktmandat. Die Daumenregel lautet also: Je weniger Stimmen die erstplazierte Partei erhält und je klarer ihr Abstand zur zweitplazierten ist, desto größer wird der Bundestag. Genau in diese Richtung hat sich das deutsche Parteiensystem entwickelt. Die Union hat erheblich an Stimmenanteilen eingebüßt, liegt aber noch immer so deutlich vor den anderen Parteien, dass sie die meisten Wahlkreise gewinnt. 2017 hat diese Konstellation zu 111 Überhang- und Ausgleichsmandaten geführt und die Anzahl der Abgeordneten auf 709 erhöht. Wie gleich gezeigt wird, ist das noch nicht die maximale Bundestagsgröße. Wenn man neuere Wahlumfragen zugrunde legt, könnten es 2021 auch 800 Mandate oder mehr werden. Das Vergrößerungsproblem des Wahlsystems war den politischen Entscheidungsträgern von Anfang an bewusst. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert mahnte mehrfach eine Reform an. Sein Nachfolger Wolfgang Schäuble setzte im Juli 2018 eine interfraktionelle Arbeitsgruppe ein, die einen konsensfähigen Vorschlag entwickeln sollte. Im März 2019 ging die Gruppe ergebnislos auseinander. Ein daraufhin von Schäuble selbst lancierter Vorschlag wurde von allen Fraktionen vehement abgelehnt. Natürlich fällt es jedem Abgeordneten schwer, einer Rückführung der Parlamentsgröße zuzustimmen und damit seine Wiederwahlchancen zu schmälern. Hinter der Kompromissunfähigkeit der Fraktionen verbirgt sich freilich ein tieferliegendes Problem: Alle möglichen Reformoptionen sind für die einzelnen Parteien mit gegensätzlichen Vor- und Nachteilen verbunden. Grundsätzlich gibt es vier Ansätze, den Mandatsaufwuchs im Rahmen des geltenden Wahlrechts zu begrenzen. Erstens kann man Überhangmandate - Direktmandate, die nicht in die Verhältnisrechnung eingefügt werden - unausgeglichen lassen, wie es vor 2013 der Fall war (Tolerierung). Dadurch würde sich die Bundestagsgröße um die wegfallenden Ausgleichsmandate verringern. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die Höchstzahl unausgeglichener Überhangmandate auf 15 begrenzt. Daher kann eine Tolerierung die Vergrößerung des Bundestags auch nur begrenzt aufhalten. Außerdem bekommen dann die Parteien mit Überhangmandaten einen Mandatsbonus, der weder durch ihre besondere Stimmenstärke begründet noch durch den Zweitstimmenproporz gedeckt ist. Da CDU und CSU derzeit die allermeisten Überhangmandate gewinnen, plädieren sie für eine Tolerierung, während die anderen Parteien sie strikt ablehnen. Zweitens kann man Überhangmandate, die eine Partei in einem Bundesland erzielt hat, mit ihren Listenmandaten in einem anderen Land verrechnen (Kompensation). Das verringert die Anzahl der auszugleichenden Überhangmandate auf Kosten der Landeslisten, in denen die betreffende Partei wenige Direktmandate erzielt hat. Voraussetzung dafür ist, dass die Partei zwei oder mehr Landeslisten angemeldet hat. Bei der CSU kann daher keine Kompensation stattfinden. Bei der CDU käme es dagegen zu einer Mandatsumverteilung zu Lasten bestimmter Landesverbände. Drittens könnte man die Direktmandate mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen, die nicht durch den Zweitstimmenproporz gedeckt sind, streichen (Kappung). Dadurch würde die Sollgröße des Bundestages immer eingehalten. Allerdings bleiben dann so viele Wahlkreise unbesetzt, wie Überhangmandate gekappt werden müssen. Davon wäre absehbar die Union betroffen, während die anderen Parteien damit leben könnten. Viertens könnte man die Wahlkreise so verändern, dass möglichst keine Partei mehr Direkt- als Listenmandate gewinnt (Wahlkreisreform). Im Lichte vergangener Wahlergebnisse und aktueller Umfragedaten wäre der Anteil der Direktmandate auf etwa vierzig Prozent zu senken (von 299 auf 240). Damit würde der Mandatsaufwuchs effektiv begrenzt. Da aber alle Abgeordneten, ob sie nun in Wahlkreisen oder über Landeslisten gewählt sind, ihre politische Basisarbeit an der gegebenen Wahlkreisstruktur ausrichten, ist eine Wahlkreisreform quer über die Parteien hinweg höchst unbeliebt. Die institutionellen Eigeninteressen der Bundestagsparteien erklären auch ihre unterschiedlichen Reformaktivitäten nach dem Scheitern der Schäuble-Kommission. Die Oppositionsfraktionen konnten sich schnell auf eine Lösung verständigen. Im Oktober 2019 präsentierten FDP, Linke und Grüne einen gemeinsamen Gesetzentwurf, der eine Absenkung des Direktmandatsanteils auf vierzig Prozent bei einer erhöhten Sollgröße von 630 Sitzen vorsah. Dieser Vorschlag hätte erwarten lassen, dass die tatsächliche Bundestagsgröße der Sollgröße entspricht oder nur knapp darüber liegt. Seine Behandlung im Bundestag wurde allerdings von den Regierungsparteien blockiert. Inhaltlich hätte sich die SPD-Fraktion dem Oppositionsentwurf wahrscheinlich anschließen können, wollte aber keinen Koalitionskonflikt mit der Union riskieren. Daher legte die SPD im Februar 2020 einen eigenen, zweistufigen Vorschlag vor. Für die Bundestagswahl 2021 sollte eine feste Obergrenze von 690 Mandaten gelten; darüber hinausgehende Überhang- und Ausgleichsmandate sollten als "Notfalllösung" gekappt werden. Danach sollte eine Kommission aus Wissenschaftlern, Politikern und Bürgern eine langfristig tragfähige Wahlrechtsreform ausarbeiten, wobei der paritätischen Repräsentation von Männern und Frauen besondere Bedeutung zukam. Die Oppositionsparteien hätten sich wohl mit diesem Vorschlag anfreunden können, aber die CDU/CSU lehnte ihn rundheraus ab. Die Union brauchte mit Abstand am längsten für ihre inhaltliche Positionierung. Vor allem die CSU-Landesgruppe, deren Mitglieder alle in Wahlkreisen gewählt sind, sperrte sich gegen jedwede Änderung bei den Direktmandaten. Am 30. Juni 2020 trat das Gesetz in Kraft, das die Einteilung der 299 Wahlkreise für die Bundestagswahl 2021 festlegt. Tags darauf präsentierte die Unionsfraktion ein Modell, das eine moderate Verringerung der Wahlkreise von 299 auf 280 und eine Tolerierung von sieben Überhangmandaten vorsah. Aus Sicht der SPD kam diese Initiative zu spät, um eine Wahlkreisreform für die kommende Wahl umzusetzen. Gleichwohl ließ sie sich auf Verhandlungen mit der Union ein, die jetzt auf ein rasches Ergebnis drängte. Als sich die Führungen der Regierungsfraktionen nicht einigen konnten, wurde die Entscheidung in den Koalitionsausschuss verschoben, dem schließlich die Verständigung gelang. Blickt man aus parteipolitischer Sicht auf die Koalitionsvereinbarung, ist die CSU klare Siegerin. Die kleinste Bundestagspartei hat bei der kommenden Wahl keinerlei Änderungen zu befürchten und zudem gute Chancen, eines der unausgeglichenen Überhangmandate zu erhalten. Die von ihr ungeliebte Wahlkreisreform ist auf 2025 verschoben. Diese Vorteile gelten auch für die CDU, allerdings muss sie sich auf innerparteiliche Konflikte einstellen, weil wegen der geänderten Kompensationsregelung die Landesverbände, auf die Listenmandate entfallen, mehr Mandate abgeben müssen als bisher. Die SPD kann sich lediglich zugutehalten, dass der Unionsvorschlag in verwässerter Form realisiert wird und ihre weiteren Anliegen in der Reformkommission besprochen werden. Die Oppositionsparteien könnten sich mit der internen Kompensation anfreunden, aber nicht mit den unausgeglichenen Überhangmandaten. Bei der Umsetzung der Reform sind sie laut Koalitionsvereinbarung nicht eingebunden, sondern dürfen nur in der geplanten Kommission mitarbeiten, in der es um andere Fragen geht. Dass jede Partei die Einzelheiten von Reformvorschlägen aus ihrem eigenen Blickwinkel bewertet, liegt in der Natur der Sache. Das Beruhigende und Einigende einer Verhältniswahl ist, dass sie bei der Sitzzuteilung jede Partei gleich behandelt, nämlich getreu ihrem bundesweiten Wählerzuspruch. Wie aber wirkt sich der "erste Dämpfungsschritt" der Koalitionsvereinbarung auf die Größe des Bundestages aus? Dies sei anhand von drei Szenarien illustriert: der Bundestagswahl vom 24. September 2017, Umfragedaten von Civey vom 24. Dezember 2019 und Umfragedaten von Emnid vom 18. Januar 2020. Unter dem geltenden Wahlgesetz ergeben sich hierfür Bundestagsgrößen von 709, 791 und 822 Sitzen. In der Koalitionsvereinbarung heißt es, dass der erste Zuteilungsschritt im Bundeswahlgesetz modifiziert werden soll. Allerdings lässt die Formulierung offen, ob dabei dem im Vorfeld entwickelten Vorschlag der CDU/CSU oder dem der SPD zu folgen ist. Wendet man die Unionsmodifikation mit den drei unausgeglichenen Überhangmandaten an, ergeben sich Bundestagsgrößen von 686, 768 und 797 Sitzen. Die SPD-Modifikation mit drei Überhängen verhält sich etwas sparsamer und führt zu 675, 760 und 794 Sitzen. Man kann sich die Auswirkungen des ersten Dämpfungsschritts auch ohne die unausgeglichenen Überhangmandate ansehen. Natürlich steigt die Bundestagsgröße dann wieder an, aber dieser Anstieg fällt bemerkenswert moderat aus. Ohne Überhänge endet die Unionsmodifikation bei 700, 778 und 807 Sitzen, die SPD-Modifikation bei 700, 769 und 804. Das bedeutet also, dass die nichtkompensierten Überhangmandate bei einem starken Aufwuchs von rund 200 Mandaten lediglich zehn davon "einsparen" würden. Der Dämpfungseffekt der SPD-Modifikation liegt in diesen Fällen immerhin doppelt so hoch. Jenseits aller Zahlen ist frappant, wie unterschiedlich die beiden Modifikationen formuliert sind. Die Unionsmodifikation besteht aus einem Dickicht von Schachtelsätzen und Querbezügen. Um sich durchzukämpfen, muss man Beispielauswertungen zur Hand nehmen und akribisch Zeile für Zeile den Bezug von Wörtern und Zahlen nachverfolgen. Pro Szenario zwölf Seiten. Dagegen passt eine Wahlauswertung mit der SPD-Modifikation auf eine Seite. Auch die textliche Formulierung ist transparent und lesbar. Diese Fassung würde das kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht auf eine neue und verständliche Grundlage stellen. Nicht zuletzt würde sie auch Gemeinsamkeiten mit dem Gesetzentwurf der Opposition eröffnen. Insgesamt kommt der erhebliche Dämpfungseffekt, den die Koalitionsvereinbarung verspricht, mit keiner der beiden Modifikationen verlässlich zustande. Eher rückt für 2021 eine weitere Vergrößerung des Bundestags ins Blickfeld, die zugegebenermaßen etwas geringer ausfällt, als wenn man gar nichts täte. Angesichts dieser Aussichten ist die Bundestagsverwaltung gut beraten, ihre vorsorgliche Reservierung von Bürocontainern aufrechtzuerhalten. Die Frage ist nicht, ob sie gebraucht werden, sondern wie viele davon. Auch in verfassungsrechtlicher Perspektive wirft die Koalitionsvereinbarung Bedenken auf. Im Zentrum stehen hier die unausgeglichenen Überhangmandate, die in vielerlei Hinsicht kritikwürdig sind. Sie entstehen nun nicht mehr eher beiläufig, sondern werden ausdrücklich postuliert und im Gesetz institutionalisiert. Außerdem könnte durch die unausgeglichenen Überhangmandate wieder ein negatives Stimmgewicht entstehen, das zu einem ungerechtfertigten Mandatsbonus führt. Am besten lässt sich das an einem ähnlichen Fallbeispiel verdeutlichen wie der Dresdener Nachwahl von 2005, nur dass der Wahlkreis jetzt in Bayern liegt, in dem die CSU absehbar die relative Stimmenmehrheit hält. Wenn bei dieser hypothetischen Nachwahl die CSU-Anhänger nur ihre Erststimme dem CSU-Direktkandidaten geben, aber ihre Zweitstimme ungenutzt lassen, könnte der CSU-Mandatsanteil, der bei der Oberverteilung nach bundesweitem Zweitstimmenproporz ermittelt wird, wegen der geringeren Zweitstimmen um ein Mandat sinken. Da die CSU jedoch weiterhin das Direktmandat gewinnt, kann dieses Mandat zu einem "echten" Überhangmandat werden, wenn das Kontingent der tolerierten Überhangmandate noch nicht ausgeschöpft ist. So erhält die CSU durch weniger Zweitstimmen einen Mandatsvorteil gegenüber den anderen Bundestagsparteien. Das Beispiel ist zwar konstruiert, doch lag genau so ein Fall dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 gegen das seinerzeitige Wahlgesetz zugrunde. Somit hätte eine Klage gegen die jetzige Reform gute Erfolgsaussichten, zumal die Karlsruher Richter an anderer Stelle deutlich gemacht haben, dass bei "Regelungen, die die Bedingungen politischer Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird" und deswegen die "Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle" unterliegt. Dies führt uns zum letzten Kriterium einer gelungenen Wahlrechtsreform: der breiten Akzeptanz im Parlament. Aufgrund seiner historischen Genese zählt das Bundeswahlgesetz zu den wenigen Grundregeln der deutschen Demokratie, für deren Änderung keine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Allerdings ist die Regierungsmehrheit gut beraten, die Oppositionsparteien bei jeder Wahlrechtsänderung einzubeziehen. Denn sie könnten nicht nur gegen eine "einseitige" Reform erfolgreich klagen (wie 2011), sondern auch nach der nächsten Wahl der neuen Regierung angehören und dann das Wahlgesetz nach eigenen Vorstellungen ändern. Wenn aber das Wahlsystem nicht mehr als demokratische Grundregel begriffen wird, die man nur im breiten Konsens reformiert, sondern zum Spielball der jeweiligen Mehrheit wird, wird die institutionelle Stabilität massiv beeinträchtigt. Daher ist es bedenklich, dass die Koalitionsvereinbarung keine Beteiligung der Opposition bei der Wahlrechtsreform vorsieht. Stattdessen wollen die Koalitionsspitzen sogar die künftige Bundestagsmehrheit mit ihrem jetzigen Beschluss über die ab 2025 geltende Wahlkreisreform binden. Da auch diese Änderung die Parlamentsvergrößerung nicht hinreichend eindämmen kann, hätte die neue Regierung allen Grund, wieder Hand an das Wahlrecht zu legen. Im schlimmsten Fall droht dann eine unbegrenzte Fortsetzung untauglicher Reformen. In einem Interview mit der F.A.S. vom 30. August 2020 bedauerte Bundestagspräsident Schäuble, "dass die Fraktionen keine Reform hinbekommen, die den Namen verdient. Und dass Parteivorsitzende, die nicht mal dem Parlament angehören, dann die Entscheidung verkünden, entspricht nicht meinem Verständnis von parlamentarischer Demokratie." Tatsächlich ist es bitter, dass der Bundestag bislang nicht in der Lage war, die allseits als notwendig erachtete Wahlrechtsreform in eigener Regie durchzuführen. Doch auch der Koalitionsausschuss hat keine überzeugende Lösung gefunden. Die vereinbarten "Dämpfungsschritte" hemmen die Vergrößerung des Bundestages nur wenig, die unausgeglichenen Überhangmandate werfen verfassungsrechtliche Probleme auf, und das regierungszentrierte Verfahren ist demokratiepolitisch prekär und signalisiert eine Geringschätzung des Parlaments. Daher sollte der Koalitionsbeschluss nochmals überdacht werden. Die Modifikation des ersten Zuteilungsschritts ist sicherlich sinnvoll, sofern die SPD-Version zugrunde gelegt wird. Die Unionsmodifikation würde dagegen den bestehenden Verfahrensdschungel vollends in ein undurchdringliches Regelungsdickicht ausarten lassen. Zudem sollten die unausgeglichenen Überhangmandate gestrichen werden: Sie dämpfen den Mandatsaufwuchs nur marginal und öffnen eine rechtliche und politische Angriffsflanke gegen die gesamte Reform. Wenn die Regierung einen unkontrollierten Mandatsaufwuchs bei der Bundestagswahl 2021 verhindern will, bleibt aufgrund des Zeitdrucks nur die Option, eine Maximalgröße des Bundestages von beispielsweise 690 Mandaten festzusetzen und dann überzählige Direktmandate und die damit einhergehenden Ausgleichsmandate nicht zu vergeben. Wenn dies ausdrücklich als einmalig anzuwendender Notfallmechanismus formuliert würde, könnte der Union die Zustimmung leichter fallen. Noch wichtiger wäre freilich, jetzt endlich den Weg für eine langfristig tragfähige Wahlrechtsreform zu bereiten. Die einzusetzende Reformkommission böte dazu Gelegenheit. Allerdings sollte sie nicht aus Parlamentariern und Wissenschaftlern bestehen, sondern aus zufällig ausgelosten Bürgern, die sich von Experten in öffentlichen Anhörungen beraten lassen und einen Reformvorschlag ausarbeiten. Anderswo sind mit solchen Bürgerforen gute Erfahrungen gemacht worden, etwa in der kanadischen Provinz British Columbia. Am Ende würde der Bundestag über diesen Vorschlag abstimmen und damit letzte Entscheidungsinstanz bleiben. So könnten die Abgeordneten den inzwischen nicht mehr unabweisbaren Vorwurf entkräften, dass sie zu einer echten Wahlrechtsreform nicht bereit und fähig sind. Der parlamentarischen Demokratie wäre damit ein großer Dienst erwiesen. * * * Florian Grotz lehrt Politikwissenschaft an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Friedrich Pukelsheim ist emeritierter Professor für Mathematik der Universität Augsburg.
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