This is file www.uni-augsburg.de/bazi/Erdmannsdoerffer1932.html
DO NOT RELY ON THIS FILE WHICH IS TRANSITIONAL. IF YOU WANT TO MAKE SERIOUS USE OF THIS MATERIAL, CONSULT THE ORIGINAL DOCUMENT AT THE
Thomas-Mann-Archiv der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich


Hans Gustav Erdmannsdörffer:
Sehr geehrter Herr Thomas Mann!

Schreibmaschinenbrief, 6 Seiten, mit zahlreichen – hier nicht angezeigten – Verbesserungen von der Hand des Autors. Unterstreichungen im Original sind hier kursiv gesetzt. Der Brief ist im Besitz des Thomas-Mann-Archivs der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, das freundlicherweise die Genehmigung zur Transkription und zur Ausstellung im Internet erteilt hat.

Der Antwortbrief von Mann an Erdmannsdörffer vom 8. September 1932 wurde im Artikel «Eher Sozialist als Bürger» von Cornelia Bernini und Thomas Sprecher in der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. August 2005 veröffentlicht.

Hans Gustav Erdmannsdörffer verfasste diverse politische Schriften, in denen er vehement für die Verhältniswahl warb. Allerdings empfand er starre Listen als eine Einschränkung der Wahlfreiheit und wollte sie durch Elemente der Einerwahl ersetzen. Damit wird Erdmannsdörffer zu einem Vordenker einer "mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl" des heutigen deutschen Bundeswahlgesetzes.

Friedrich Pukelsheim, Gerlinde Wolsleben
Augsburg, im August 2006


H.G. Erdmannsdörffer. Luckau, Nd.-Lausitz, Bogenstr. 16
  24. August 1932                                        

Sehr geehrter Herr Thomas Mann!

 

Ihr schöner und handfester Aufsatz im "B.T." giebt mir den verwegenen Mut, Ihnen mit den folgenden Betrachtungen und Anregungen zu nahen.

Zunächst einige Zeilen ad personam: Ich bin ein Neffe des bekannten Historikers Prof. Dr. Bernhard E. in Heidelberg (dessen Sohn, mein Vetter, letzthin, auch in Heidelberg, Rektor der Universität war). Mütterlicherseits stamme ich von der alten Breslauer Patrizierfamilie der Ruthardts, und der Begründer der berühmtem Kunsthandlung Amsler & Ruthardt war mein Onkel, Bruder meiner Mutter. Ich selbst wandte mich nach nationalökonomischen Studien der politischen Schriftstellerei zu, war erst, infolge der Familientradition, rechts eingestellt, entwickelte mich aber bald nach links und war wiederholt Reichstags- und Landtagskandidat der fortschrittl. Partei und der D.D.P. Auch bekleidete ich Aemter als Stadtverordneter und Abg. der Evang. Provinzialsynode. Der Naumannschen Richtung war ich verwandt, ohne in jeder Hinsicht mit ihr übereinzustimmen. In der Partei vertrat ich stets den linken, durch Sachlichkeit gemilderten Flügel. Ich war 9 Jahre lang Leiter der parteioffiziösen "Liberalen Corr." und nach dem Kriege erst Referent, später Leiter der Nachrichtenstelle des Reichsm. des Innern und zwar unter Preuss, David, Koch-Weser und Gradnauer. Eine grosse Reihe von Schriften, die ich verfasste, hatten allesamt die Tendenz, die Liebe und das Verständnis für die Republik zu festigen. Meine Einstellung war stets: erst die demokratische Republik kann die nationalen Kräfte eines Volkes wirklich zur Entfaltung bringen. Meine Schreib- und Redeweise ist temperamentvoll. Die Sachlichkeit meiner Natur wird aber gleichzeitig bekundet durch meine zahlreichen Arbeiten zur Wahlreform, wo ich eigene Gesetze entworfen habe und in manchen Kreisen als "Fachmann" gelte.

Nach dem Fiasko der D. Staatsp. 1930 zog ich mich für fünfviertel Jahr zu meinem Sohn nach Spanien zurück, wo ich aus dem Werden der dortigen Republik starke Erkenntnisse für unser Vaterland zog. Die Hindenburg-Wahl entzündete aufs neue mein Bedürfnis, im Vaterlande tätig zu sein. Ich kam herüber und bin nun hier geblieben, vorläufig, und ich möchte mich weiter im nationalen Sinne der Republik betätigen.

So viel zum Persönlichen, das, an sich gleichgiltig, vielleicht doch nicht unnötig war, um mich bei Ihnen zu legitimieren.

Ich habe der D.D.P. mit Leib und Seele angehangen; die D. Staatsp. betrachtete ich mit Skepsis, aber ich war discipliniert genug, auch ihr zu dienen. Die Tatsache, dass die Parteileitung eine lebendige, warmherzige, rednerisch und organisatorisch erfolgreiche Kraft wie mich stets zurückgesetzt hat, sodass ich weder in amtlicher noch in parteipolitischer Hinsicht "etwas werden" konnte, vermochte mich als hemmungslosen sog. "Idealisten" nicht, meiner Partei untreu zu werden. Jetzt aber ist es mir klar:

Die D. Staatspartei ist tot. Es wäre eine Chimäre, sie wieder beleben zu wollen. Sie ist gestorben an ihrer Herzensmattigkeit, an ihrem vollkommenen Mangel an aggressivem Geist gegenüber der hochkommenden Nationalistenwelle, an der konservativen Handwerksmässigkeit ihrer Propaganda. Der Bewegung fehlte von vornherein der Sinn für die bedeutsame Tatsache: dass die politische Menschenbearbeitung eine hohe und grosse Kunst ist; und niemals hat die in der Personalpolitik unbegreiflich ungeschickte Parteileitung auch nur versucht, Menschenbehandlungskünstler in die entscheidenden Positionen der Partei hineinzubringen. Ohne die allgemeinen Gründe für das Debacle der Republik verkennen zu wollen – die bis zum Überdruss oft als willkommene Entschuldigung für unsere Fehler aufgezählt wurden –, ist für mich – und wohl auch für Sie als Psychologen – die Unkunst


-2-

unserer Propaganda ein mitentscheidender Faktor unseres Niederganges. Dabei war vor allem wichtig, dass wir es nicht verstanden, der Wählermasse den edlen und grossen nationalen Gehalt der republikanischen Bewegung klar zu machen, sondern dass wir die lügenhafte Agitation zuliessen, Jene seien "die" nationale Kraft, "die" nationale Bewegung, und wir seien national unzuverlässig oder gar verräterisch. Diese Unterlassungssünde hat sich in klassischer Weise gerächt, da ein Papen es wagen kann, der wackeren nationalen Arbeit der Brüning, Braun und Severing jetzt die "nationalen, aufbauwilligen Kräfte" jenes Gesindels entgegenzusetzen, das nur herrschen, aber nicht helfen will, nicht aufbauen, sondern nur zerstören kann. In unfassbarer Verkennung der seelischen Verfassung der Wählerschaft erging sich die Partei bei ihren Flugblättern und Reden in öder, langweiliger Fachsimpelei, in berufsständischer Kleinklitterei, anstatt die grossen Linien mit Schwung und Idealismus, Leidenschaft und Angriffsgeist zu behandeln und so die Massen zur Stellungnahme für oder wider uns zu zwingen. Das schlimmste für die Partei war, dass sie seit Jahren von der Bevölkerung und auch vom Gegner fast gar nicht mehr beachtet wurde, dass sie den Massen gleichgiltig geworden war. Die Tugend unserer grossen und nützlichen Sachlichkeit wurde uns zum schweren propagandistischen Fehler.

Es erscheint aussichtslos, der Partei einen neuen Aufschwung geben zu können, da die führenden Männer ihre eigenen psychologischen Fehler nicht erkennen und einen anderen Stil nicht einschlagen werden und da die Wählerschaft einfach das bankerotte Gebilde nicht mehr mitmacht. Jedoch verlangt das Interesse Deutschlands, dass eine Partei des demokratisch-liberalen Bürgertums vorhanden ist. Weder Sozialdemokratie noch Centrum können das Sammelbecken sein für die sonst heimatlosen zahlreichen Elemente der bürgerlichen Intelligenz, der tüchtigen Mittel- und gehobenen Arbeiterschichten, deren Vorhandensein so charakteristisch ist für die deutsche Kultur. Sie müssen im politischen Leben Deutschlandes Ausdruck und Vertretung finden, soll unser Land nicht im Faschismus oder im Bolschewismus untergehen. Die Hilflosigkeit der jetzigen Lage im Reich und in Preussen zeigt, wie unerlässlich für Deutschlands Wohl eine aktive und kulturstarke bürgerliche Republikpartei ist.

Ich kann mich hier nicht ganz dem "B.T." anschliessen, das zwar auch die D. Staatsp. für erledigt hält, aber gelegentlich als Zwischenstadium eine Art Liga, eine Vereinigung zur Sammlung der Kräfte, vorschlug. Es besteht die Gefahr, dass hieraus eine neue Debattiergesellschaft ohne praktische Organisationsarbeit werden würde.

Was wir brauchen, sind Männer des robusten Willens, der freudigen, angriffslustigen Tat. "Es giebt Massen von intelligenten Menschen, aber den meisten fehlt es an Willenskraft", – so soll Schleicher neulich in einem Interview gesagt haben. Ein wahres Wort! Sollte Schleicher damit vielleicht die liberal-demokratischen Elemente ironisiert haben, die mit Willenskraft und agitatorischem Geschick die Massen gewinnen könnten, sie aber, müde und willensschwach, den – von Schleicher vermutlich im tiefsten Herzen auch verachteten – Krakehlern und blutdürstigen Querköpfen der Hitlerei anheimfallen lassen? Eine Gegenwirkung ist nur zu erzielen, wenn eine aktive, kampfbereite Organisation von Männern sehr festen Wissens und Wollens aufgezogen wird, die mit den Mitteln des souverän überlegenen Geistes ausgestattet ist, aber die einfache Sprache findet zum Herzen des Volkes.

Es wird nur die Bildung einer Organisation übrig bleiben, die man gleich offen "Partei" nennen möge. Aber diese Partei muss sich wesentlich unterscheiden von den früheren Parteien, und zwar schon in ihrem ganzen Aufbau. Sie muss von neuen Leuten, mit neuen Ideen und mit neuen belebenden Worten, mit neuen Organisationen und neuartiger Aufziehung gemacht werden. Sie muss originell sein und nicht "der alte Laden", der die Leute von vornherein langweilt. Die Partei darf unter keinen Umständen als eine einfache Fortsetzung der alten D. Staatsp.


-3-

erscheinen. Die Abgeordneten dieser dürfen natürlich als ehrenwerte Männer rein persönlich beitreten, aber sie müssen parlamentarisch völlig selbständig dastehen, Niemand darf für ihre parlamentarischen Taten die neue Partei in Anspruch nehmen.

Niemand von den Führern, Unterführern und Parteisekretären der Staatspartei darf in der neuen Partei eine Rolle spielen, auch darf nicht etwa die Staatsp. ihre Akten und ihr "Vermögen"(!) der neuen Partei vermachen. Strikte muss also der Eindruck vermieden werden, dass es sich hier einfach um eine Fortsetzung unter anderer Firma handle. Die neue Partei muss im Gegensatz zur Staatsp. einen schwunghaften Optimismus, einen wahrhaften Glauben an die schlummernde Ethik des Bürgertums entwickeln und ihren Hauptfeind, den kulturlosen Nationalsozialismus, sofort mit ebenso viel Würde und Überlegenheit wie mit zornigem Elan, mit ehrlichem Impetus attackieren. Glauben Sie mir, hochverehrter Herr Mann, das Bürgertum sehnt sich im Grunde genommen nach den intelligenten, frischen, geistig überlegenen Kerlen, die diesen grossmäuligen Schwätzern und grünen Jungen mal, bildlich gesprochen, die Hosen stramm ziehen! Das Bürgertum ist jetzt still und stimmt schliesslich der Partei dieser Burschen zu, weil eben Niemand da ist, sonst, der dem unklaren nationalen Fühlen des Bürgers Genüge tut. Eine frisch vom Leder ziehende und damit dem Bürger imponierende Partei der bürgerlichen Demokratie, die die nationale Gesinnung keck und aktiv für sich in Anspruch nimmt, würde vielfach geradezu als Erlösung wirken.

Die Partei muss sich auch völlig frei stellen von dem falschen Gedanken zu "sammeln". Was giebt's denn heute noch im Bürgertum zu sammeln? Die faulen Reste der D. Volksp. oder der Wirtschaftspartei? Nein, die Partei hat das Kulturgut Deutschlands, vorhanden in der Verfassung, zu verteidigen und folgerichtig weiter zu bauen, sie hat die auf Abbruch stehende Republik wieder herzustellen und mit nationaldemokratischem Geist zu erfüllen und in eiserner Konsequenz gegen ihre Feinde zu verriegeln. Sie hat zu diesem Behuf an den Idealismus und an den wahrhaften Patriotismus Aller zu appellieren und nicht an kleine bisherige Parteigrenzen zu denken. Die Wiedergewinnung des Bürgertums ist zu betreiben durch unausgesetzte und rückhaltlose Inanspruchnahme des Begriffs "national" für uns.

Ohne irgendwelchen dogmatischen Sozialismus muss das Herz der Partei schlagen für die Notleidenden und die Enterbten; unsere Sozialpolitik muss von ernstem Pflichtgefühl und von überzeugungsvoller Liebe zum arbeitenden Volk getragen sein im Sinne echt kameradschaftlicher Demokratie.

Mit einem Wort: die neue Partei muss appellieren an das gute und edle im Menschen, an den schlichten nationalen Sinn, an die Brüderlichkeit, an das Bedürfnis des gesunden Menschen nach Fortschritt, Freiheit und Gerechtigkeit, diese Grossgüter der Kultur, die jetzt zielbewusst von den Feinden der Republik wieder verschüttet werden. Eine solche Partei kann aber heute mit Aussicht auf Erfolg nur von Persönlichkeiten geschaffen werden, die auf der Höhe des deutschen Kultur- und Geisteslebens stehen. Nur wenn eine mächtige Welle der nationalen Begeisterung, des leidenschaftlichen Willens, die deutsche Republik zur Pflanzstätte aller freien fortschrittlichen Geister und aller anständigen Menschen zu erheben, vorhanden ist, kann die neue Partei Erfolg haben. Männer und Frauen der deutschen Intelligenz, der Wissenschaft und der Kunst, die den Zusammenbruch der Kultur bei der Fortsetzung der heutigen Zustände schmerzlich fühlen, müssen sich aufraffen und positiv als Schützer und Förderer der deutschen Republik auftreten. Mit gelegentlichen hübschen Aufrufen ist es heute nicht getan. Sie dringen nicht ins Volk. Und das "Volk der Dichter und Denker" ist ja heutzutage in einer bejammernswerten Unkenntnis der Persönlichkeiten, die an der geistigen Spitze der Nation stehen. Diese sind freilich selbst mitschuldig an dieser Nichtachtung oder Nichtbeachtung, da sie zumeist ängstlich besorgt waren, sie möchten nur als Vertreter ihres "Fachs" gewertet werden und dürften sich darüber hinaus kein Urteil erlauben.


-4-

In Spanien hat die demokratische Republik festen Fuss gefasst. Einer der Hauptgründe für diese erfreuliche Erscheinung ist die Tatsache, dass dort die Intelligenz aktiv tätig ist im Dienste der Gedanken der Republik. Grosse Gelehrte und Dichter stehen als Abgeordnete und Staatsmänner der Republik zur Verfügung: Unamuno, Ortega y Gasset, der Berliner Botschafter und Abg. Araquistáin, der bedeutende Schriftsteller Salvador de Madariaga, jetzt Boschafter in Paris und Autor eines der besten Bücher über Spanien; Blasco Ibañez wird vom Volke jetzt als eine Art Nationalheiliger verehrt. Das Beispiel der Geistesführer hat anfeuernd auf die Jugend gewirkt. Die Studentenschaft in ihrer grossen Mehrheit ist die zielbewusste Trägerin und Fortbildnerin der neuen Staatsidee – die ja allerdings jedes junge Herz entzünden müsste; und es ist die Unnatur, dass es in Deutschland nicht auch so ist!

Eine Entschuldigung für die Abstinenz der Intelligenzwelt in Deutschland mochte bisher sein, dass die Wirtschaftsfragen im Vordergrunde standen und viele Gelehrte und Künstler sagen konnten: hier müssen die reinen Fachmänner den Vortritt haben (freilich auch keine Entschuldigung für die Herren Nationalökonomen!). Jetzt ist die Verfassung bedroht und damit die ganze kulturelle Grundlage unseres Staatswesens. Jetzt geht es wieder um die ideellen Güter der Nation. Jetzt müssen die Staatsrechtler, die Juristen, die Intelligenzmänner aller Art an die Front, und auch die Künstler sollten jetzt ein gewichtig Wort mitsprechen. Man muss endlich in den Kreisen der Intelligenz den Unterschied verstehen zwischen einer Volksbewegung (gebunden in einer "Partei") und der parlamentarischen Vertretung dieser Bewegung! In die Parlamente entsendet eine ernsthafte Partei ausser den strategischen Führern die Gesetzeskenner und die Fachleute; in der Volksagitation aber wird der am Platze sein, der von der grossen Allgemeinlinie aus die Flammmen der Begeisterung und des Zorns anzufachen versteht. Die Kunst des Volkstribunen kann durchaus edel sein. Wer sie übt braucht kein ausgepichter Paragraphenmensch zu sein. Ja, es ist gut, wenn hier mit der Wucht einer ungebrochenen Naivetät vorgegangen werden kann. Es war immer der grosse Fehler der D.D.P. und der Staatsp., dass sie vor den Wählern trockene Aufzählungen der geschehenen und der geplanten Parlamentstaten gab, anstatt die Herzen zu erwärmen für die Ideen der Demokratie und sie in Entrüstung zu bringen über die Lügen der Gegner. Wir Deutschen haben hier von der wundervollen Beredsamkeit der Südländer zu lernen, die den Ton und den Stil treffen, der vor den Wählermassen angebracht ist, ohne deswegen die parlamentarische Gründlichkeit zu vergessen. Alles an seinem Platz! Sie sprechen mit Recht von der "Hysterie und der vermufften Romantik" der Hitlerei. Aber wir müssen uns klar darüber sein, dass der Hitler hier eine vorhandene Stimmung der Massen richtig erkannt und demagogisch abgefangen hat. Der Wähler, unfähig, angesichts der neuen verwirrenden Probleme der Finanz- und Wirtschaftspolitik sich eine eigene sachliche Marschrute zu bilden, ist heutzutage mehr denn je geneigt, sich romantisch-träumerischen, religiös-mystisch verbrämten "Rettungsideen" hinzugeben und an die göttliche Mission irgend einer vorgegaukelten Persönlichkeit zu glauben. Dieser jetzt krankhafte Zug zur Romantik muss aufgefangen und in gesunde Bahnen gelenkt werden. Nicht Fachsimpelei, sondern andere, schöne Ideale bringe man dem Wähler; man lenke dabei ganz zielbewusst ab von der trocken-kühlen "Beweisführung" der alten "Parteibonzen" und spreche mit Gemüt und Hingebung, ja zuweilen ausgesprochen "unpolitisch"! Die Wähler wollen ja heute gar nicht Zahlen und unwiderlegliche Beweisstücke für die "Richtigkeit" irgend einer Politik – sie wollen Aufbau und Stärkung ihrer Seele, sie wollen ein mehr oder minder "romantisch" umrahmtes Ziel. Und hier muss die neue Partei den Stil und den Rythmus zu finden wissen.

Sie sehen, worauf ich hinaus will: Die deutsche Intelligenz aller Grade, soweit sie freiheitlich-republikanisch denkt, muss jetzt aus dem Winkel der stillen Beschaulichkeit heraustreten und die Initiative ergreifen, die ihr jetzt angesichts der Bedrohung der Rechts- und Idealgüter der Nation mehr denn je zusteht. Es ist gerade gut, dass sie auf einem Terrain kämpfen wird, das ihr etwas fremd geworden ist. Die Ursprünglichkeit und Frische, die sie da ent-


-5-

falten wird – gerade das ist es, was wir jetzt gegenüber der veralteten und wirkungslos gewordenen Abgebrühtheit und Handwerksmässigkeit der alten Parteileute brauchen.

Und Sie, hochverehrter Herr Mann, sind m. E. die Persönlichkeit, die in erster Linie als Anreger und geistiger Führer der neuen Partei in Betracht kommen müsste.

Ihr Name leuchtet. Er ist ein Fanal. Es scheint mir – und wahrscheinlich vielen Tausenden noch –, dass Sie der Mann wären, um den Massen den Edelgehalt der Demokratie und die Liebe zur wahren Freiheit, die Abneigung gegen Knechtschaft und Diktatur ins Herz zu senken.

Sie sollten sich an die Spitze einer Bewegung setzen, die jene neue Partei sich vornehmen müsste! Ihr Ruf schon würde zünden. Die Massen der Intelligenz würden strömen. Der langsame Bürger, gewöhnt an Autorität, würde allmählig folgen.

Natürlich denke ich mir die Sachen so, dass Sie der grosse Initiator und Wegbereiter sind und dass sich für die mehr technische Seite, sowohl in organisatorischer wie politischer Hinsicht, andere Kräfte finden werden, die den Parteibetrieb in Verfolg der grossen leitenden Ideen praktisch aufziehen. Sie selbst würden der Vorsitzende oder Ehrenvorsitzende sein und dürften nur bei grossen Manifestationen auftreten, die ganz gewuchtig vorher aufgemacht sind und als politisches Ereignis wirken sollen.

Als Mann, der von Partei-Organisation und -Dynamik etwas versteht, würde ich für die Gestaltung der Partei, die unter Thomas Manns Ägide entstehen müsste, folgende weiteren Gesichtspunkte vorschlagen:

Die Partei würde zu heissen haben:

"Vaterländische Freiheitspartei in der Republik Deutsches Reich" oder

"Nationaldemokratische Partei Deutschlands".

In beiden Fällen muss der Wille obwalten, den Nationalisten den Gebrauch des Wortes "national" oder "vaterländisch" a priori streitig zu machen. Programmatische Tendenz, stets und überall zur Anwendung gebracht: "Die nationalen Kräfte – das sind wir!"

Im übrigen: bewusste Abstandnahme von langen programmatischen Forderungen, Aufstellung nur eines Aktionsprogramms; Kundmachung, dass den zukünftigen Abgg. der Partei in finanziellen, etatsrechtlichen, sozialpolitischen und aussenpolitischen Spezialfragen die Initiative frei gestellt ist im Geiste der Staatstreue und der sozialen Grundstimmung der Partei. In der auswärtigen Politik Bekenntnis zur Befreiungspolitik in massvoll-würdigem Sinne und im Geiste der Völkerverständigung.

Rückhaltloses Bekenntnis zu Weimar und daher schärfste Ablehnung der Papen-Politik und des kulturwidrigen Nationalsozialismus. Die Partei müsste die ausgesprochenste Spezialpartei c/a Hitler und Gen. werden. Appell an das Bürgertum, immer wiederholt, sich zu den alten Bürgertugenden des Liberalismus, der Freiheitsgesinnung und des Abscheus vor Lug, Trug und Revolvertum zurückzufinden.

Organisatorisch: die Partei macht den verhängnisvollen Unfug der Staatspartei, überall auftreten zu wollen und daher nirgends stark zu sein, zielbewusst nicht mit. Sie hat sich zunächst zu konzentrieren – schon aus finanziellen Gründen – auf diejenigen Gebiete höchsten geistigen und wirtschaftlichen Interesses, die für eine intensive Arbeit Erfolg versprechen. Es handelt sich dabei wohl um folgende Wahlkreise (resp. "Wahlgebiete"):

1. Berlin und Potsdam II. – 2. Potsdam I und Frankfurt a. O. (weil hier Teile von Berlin eingeschlossen sind). – 3. Hamburg und Schleswig-Holstein. – 4. Hessen


-6-

-Nassau (Frankfurt a. M.!) und Hessen. – 5. Oberbayern (wegen München) und Niederbayern (wegen Wahlkreisverbindung; früher sehr guter liberaler Platz: Regensburg!). 6. Die drei sächsischen Wahlkreise. – Zu erwägen wäre noch das Wahlgebiet Magdeburg-Merseburg-Thüringen (wegen Halle, Weimar und Jena).

Die Propaganda-Arbeit hätte sich bewusst zunächst nur auf die Grossstädte und solche Plätze zu erstrecken, in denen geistiges Leben und ein fortschrittliches Bürgertum vorhanden ist. Gelder und Kräfte sind nicht zu verzetteln auf das Land (dieser sentimentale Fehler der D.D.P. ist abzulehnen!); die Stimmen müssen da, wo die Menschen kompakt sitzen, in den Städten, gescheffelt werden. Sehr wichtig: die Partei stelle in jedem Wahlkreis höchstens drei Kandidaten auf! Diese aber müssen allesamt auf der Höhe stehen und der Wählerschaft durch ihre überlegene Persönlichkeit imponieren. Den Unfug der "Liste" werden wir auf diese Weise durch eine kühne und gesunde Initiative selbst beseitigen. Die Organisation muss anfänglich stark centralistisch sein. Die Fäden müssen in Berlin zusammen laufen. Die grosse demokratische Presse wird intensiv zu interessieren sein und dürfte ja in dieser Partei eine Wunscherfüllung sehen. Die Lokalpresse zu bearbeiten (ein grosses Manko bisher!), wird eine besonders wichtige Aufgabe der zu bildenden Propaganda-Abteilung der Partei zu sein haben, der überhaupt bedeutsame Funktionen zustehen werden. Die Finanzierung wird erleichtert durch die Tatsache, dass die Arbeit zunächst auf wenige Gebiete beschränkt werden soll.

Diese Andeutungen über das Detail mögen für heute genügen. Sie ersehen daraus, dass ich nicht in den alten Gleisen fahren will, sondern neue Methoden vorschlage, die den heutzutage wichtigen Vorzug der Originalität haben. Ich leide unter der "Tücke des Objekts", nämlich der totalen Mittellosigkeit, die mich radikal verhindert, für meine Ideen Propaganda zu machen. Ich würde sonst im Lande herumreisen und versuchen, geeignete Persönlichkeiten für die Idee dieser Partei und für die Übernahme von Posten zu gewinnen.

So blieb mir nur der Weg, Sie mit diesem Schreiben aufzusuchen und Sie zu bitten, von meinen Äusserungen Kenntnis zu nehmen. Da ich hier, in diesem Städtchen Luckau, meinem Geburtsort, wo ich z. Zt. vegetiere, nicht einmal Ihre Adresse erfahren kann, so habe ich den von mir so sehr verehrten Herrn Theodor Wolff gebeten, den Brief an Ihre Adresse weiter geben zu lassen. Indem ich ihn bat, meine Darlegungen vorher zu lesen, hoffe ich, noch eine kompetente Persönlichkeit gefunden zu haben, die die Güte haben wird, von meinen Anregungen Kenntnis zu nehmen.

Wenn irgend welche Konferenzen in dieser so wichtigen Sache schon geplant sind oder in Aussicht genommen werden sollten, so wäre ich natürlich mit Freuden bereit, meine Erfahrungen und Ideen auf diesem Gebiete zur Verfügung zu stellen und überhaupt in jeder Beziehung praktisch mitzuarbeiten.

Ich darf schliessen mit dem Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung

als Ihr ergebenster

H.G. Erdmannsdörffer

Zurück zum Anfang